Natascha Khakpour

Deutsch-Können

Schulisch umkämpftes Artikulationsgeschehen
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023
(330 S.; ISBN: 978-3-7799-6999-0; 50,00 EUR)

Die von Natascha Khakpour veröffentlichte Dissertation ist sowohl für Schulforschung und Schulpädagogik als auch für an Sprachbildungsprozessen orientierte Disziplinen und Fächer hochgradig relevant. Mit einer anspruchsvollen theoretischen und qualitativ-rekonstruktiven Anlage folgt sie der Fragestellung, „welche Artikulationen von Sprache und migrationsgesellschaftlicher Differenz […] sich im Kontext des Schulbesuchs in Deutschland und Österreich im Spiegel der Erfahrungen von Jugendlichen rekonstruieren [lassen]“ (16).

Für deren luzide empirische Beantwortung wird in Teil I zunächst der Forschungsstand aus migrationspädagogischer und rassismuskritischer Perspektive entfaltet. Er folgt einer „natio-ethno-kulturell codierte[n] Figuration der Seiteneinsteiger*innen‘“, historischen Kontinuitäten segregativer Beschulung in Deutschland und Österreich sowie aktuellen schulorganisatorischen und -rechtlichen Rahmenbedingungen eines außerordentlichen Schulbesuchs (22). Daran schließt in Teil II die Erarbeitung einer intersektionalen – v.a. auf die Differenzkategorien class und race bezogenen – qualitativ-rekonstruktiven Methodologie an, die hegemonie-, zugehörigkeits- und artikulationstheoretisch informiert ist und dafür auf analytische Konzepte und empirische Aufmerksamkeiten in den Werken Antonio Gramscis und Stuart Halls zurückgreift. Diese werden durch den Einbezug weiterer Theorien und den Blick weitende literarische Anschlüsse verdichtet und ausdifferenziert, z.B. zur Performativität bei Judith Butler, zu Repräsentation bei Gayatri C. Spivak oder auch zur „dark side of organization“ (152) im Werk Franz Kafkas.

Insbesondere die Komplexität und das entwickelte Sensorium des methodischen Designs erweisen sich als fruchtbar, um in der Analyse von 17 biographisch-narrativ geführten Interviews mit Jugendlichen in Österreich und Deutschland – von denen zwölf zu zueinander minimal und maximal kontrastierenden Fällen werden – in Distanz zu verbreiteten Deutungshaushalten migrationsbezogener Bildungsdiskurse treten zu können. Statt die Interviewten, wie in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten gewohnt, als Bildungsakteur:innen oder Sprachlernende „mit Fluchterfahrung“ oder als „Seiteneinsteiger:innen“ zu adressieren, erhalten sie – „die ihre Schullaufbahn andernorts als in den konzeptionell deutschsprachlichen Schulen Deutschlands und Österreichs begonnen haben“ (282) – in der Erhebung und Auswertung vielschichtigen Raum für suchende, um Handlungsmacht ringende und widerständige Artikulationen. Wie die Autorin treffend rekapituliert, werden in der Studie – „jene Redefinitions- und Aneignungsprozesse im Kontext veränderlicher Kräfteverhältnisse“ (283) verständlich, die der flottierende Signifikant „Deutsch-Können“ in schulischer Wirklichkeit in Gang setzt.

Die qualitativ-empirischen Rekonstruktionen der Interviews in Teil III der Arbeit führen zu herausfordernden wie beeindruckenden Leseerfahrungen. Zu diesen ist vor allem die feinsequenzanalytische Entfaltung des Artikulationsgeschehens zu zählen. Sie erweist sich als notwendig, um „Deutsch-Können“ angesichts normalisierter sprachbezogener Bewährungsproben und -versprechen in nationalgesellschaftlichen Zusammenhängen überhaupt als einen diskursiven Gegenstand in Aushandlung und Konstruktion perspektivieren zu können. Es wird bestechend deutlich, wie die in Diskursen von Öffentlichkeit und Schule festgezurrte Logik, Deutsch können zu müssen, um fraglos zugehörig sein zu dürfen, in den Interviews unter zwei unterschiedlichen Dimensionen der Artikulation in Bewegung gerät:

In der ersten Dimension werden mit Blick auf „Verfahrensmäßigkeiten“ (151-220) die gewaltvollen Prozesse von „Verzeitlichung“ (175) und „Verräumlichung“ (188) im schulischen Ausschluss der Interviewten dargestellt. Hier wird die Schwäche der Institution Schule deutlich, verfassungsmäßig verbriefte Rechte zu gewährleisten. Die Autorin zeichnet nach, wie Praktiken des Aufschiebens, Warten-lassens, des Negierens von Erwartungen, des Stiftens von Diffusität sowie des Suchens und Sich-Entziehens zum alltäglichen Instrumentarium institutioneller Willkür gehören. Sie signalisieren den Jugendlichen, eigentlich niemals „richtig in der Zeit“ (210) zu liegen und dauerhaft „fehl am Platz“ zu sein. Das führt etwa zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass die (Un)Möglichkeit des Schulbesuchs und die Wirklichkeit des Ausschlusses in einem verschleiernden und dadurch sich stabilisierenden Verhältnis zueinanderstehen. Es kommt zu einem „nie enden wollenden Prozess des Aufschubs, da die Wirklichkeit nie von der Möglichkeit eingeholt wird.“ (187)

In der zweiten Dimension der Artikulation wird der Blick auf das von den Interviewten erzählte schulische Interaktionsgeschehen gelenkt. Zwischen den Polen von „Disziplinierung und Ermächtigung“ (221-281) bzw. Praktiken der Unterwerfung, des Stillstellens und Schweigsam-Machens einerseits und widerständigen, befragenden, ermutigten und sich selbst ermutigenden Artikulationen andererseits tritt hervor, wie eng die Grenzen der Artikulationsräume für die befragten Jugendlichen gezogen sind. Auch mit Blick auf das Interviewgeschehen, v.a. hinsichtlich der Positionierungen der Interviewerin und der Sprachwechsel der Interviewten, wird das Ringen um Ausdruck und Gehörtwerden seitens einer Gruppe deutlich, der ihre Sprachmächtigkeit institutionell abgesprochen wird. Es ist bezeichnend für die Härte ausschließender schulorganisatorischer Regularien und unterrichtlicher Praktiken, aber auch für die Individualisierung von Ermöglichung durch einzelne zugewandte oder aber eher benevolente Lehrkräfte, dass es einzig die tendenziell widerständige Schülerin Mina ist, die den ihr verwehrten Weg an das höherqualifizierende Gymnasium erkämpft. Sie stellt den Glauben an die gleichberechtigte Leistungserbringung der Institution offensiv infrage, bleibt beharrlich und greift in der Not auch zur List. In den meisten anderen Praktiken führen demgegenüber eher Diskurse Regie, welche die Jugendlichen über ein rassialisiertes und klassistisches Differenzwissen als Bittsteller:innen, „noch nicht würdig“ (240), oder (selbst) „schuldig“ an ihrer Lage positionieren und darüber den Anspruch, eine „normale Klasse“ in einer als „national“ hervorgebrachten Schule zu besuchen, zurückweisen.

Zusammengenommen bearbeitet die Studie ein dringliches Forschungsdesiderat hinsichtlich einer zumeist auch wissenschaftlich eher randständig beachteten Gruppe von Schüler:innen. Es ist zu hoffen, dass die Ergebnisse der Arbeit die wissenschaftliche und schulische Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass „Deutsch-Können“ weniger eine Frage sprachlicher Kompetenz darstellt als vielmehr eine in bildungsbezogenen Diskursen zugehörigkeitslogisch umkämpfte Ressource. In der Wahrnehmung der Schüler:innen wird sie seitens der Institution Schule größtenteils gegen sie in Anschlag gebracht, um ihnen ihre Fähigkeiten, legitimen Forderungen und die Inanspruchnahme von Rechten abzuerkennen.

Methodologisch wäre es lohnenswert, die mannigfaltigen Theorieangebote in Bezug auf das Verhältnis von „Hegemonie-Schule-Sprache“ (40) kondensierter zu systematisieren. Der jeweilige Stellenwert von Regularien, Diskursen, Praktiken und Narrationen könnte dabei stärker gewichtet und das Flottieren von „Deutsch-Können“ empirisch geschärft werden. Auch ließen sich dadurch evtl. die zahlreichen Wirklichkeitsebenen des schulischen Ein- und Ausschlusses (Rechte, Verfahren, Interaktionen, Erfahrungen, Wissen, u.a.), auf denen sich die Studie explorierend bewegt, expliziter zueinander konstellieren.

Anschlüsse wären etwa in biographieanalytischen Herangehensweisen an die Erzählungen der Jugendlichen zu suchen, um ihre vornehmlich im Kontext des Gesamtsamples konturierten Selbstbildungsprozesse stärker individuell auszuschärfen. Mit Blick auf die Widerständigkeit der Schüler:innen könnte dabei auch die der Arbeit inhärente Fokussierung auf deutsche Sprache repräsentationskritisch geweitet werden. So wäre es sicherlich aufschlussreich, mehr über das subjektivierende Verhältnis von zugehörigkeitslogisch prekärem „Deutsch-Können“ und den vielsprachlichen lebensweltlichen Praktiken der Schüler:innen zu erfahren.

Schließlich legen Anlage und Ergebnisse der Arbeit nahe, sprachbezogene hegemoniale Institutionalisierungsprozesse im Bildungssystem nicht nur bezüglich außerordentlicher Schulbesuche zu rekonstruieren, sondern mit holistischem Blick auf die zumeist stillen Normalismen, deren Wirkmächtigkeit die Studie v.a. qua Artikulation von Ausschluss variantenreich hat anklingen lassen. Hinsichtlich der oftmals unbeantwortet bleibenden Frage nach der Praxis von Forschungsanlagen, die dem Selbstanspruch nach reflexiv und relational vorgehen, überzeugen die präzisen, scharfen und, wenn nötig, auch behutsamen oder forschungsethisch begründet verzichtenden (170) Interpretationen. Gegenüber den subtilen Dynamiken einer Reifikation zugehörigkeitslogischer Anderer im Forschungsprozess haben sie oftmals explizit, durchgängig aber im Modus ihres Tuns überzeugend interveniert.

Zur Zitierweise der Rezension
Magnus Frank (Oldenburg): Rezension von: Natascha Khakpour: Deutsch-Können. Schulisch umkämpftes Artikulationsgeschehen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023 (330 S.; ISBN: 978-3-7799-6999-0; 50,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 18. April 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/04/deutsch-koennen/