Judith Haase

Das Kind als Kronzeuge

Professionelle Konstruktionen des Kinderschutzkindes
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(282 S.; ISBN: 978-3-7799-6544-2; 39,95 EUR)

Judith Haase setzt sich in ihrer 2021 publizierten Dissertationsstudie mit der Frage auseinander, mit welchen Vorstellungen von Kindern und Kindheit und damit auch von Kindeswohlgefährdungen Fachkräfte in Kinderschutzfällen agieren. Mit ihrer Arbeit möchte sie Impulse zur Qualitätssteigerung von Kinderschutzbemühungen beisteuern – vor allem durch eine Sensibilisierung für die stärkere Beachtung des eigenständigen Erlebens und der umfassenden Bedürfnisse von Kindern.

Ihre Untersuchung platziert Haase in einem von ihr spezifisch abgesteckten Forschungsfeld. Dieses umschließt Wissensbestände zu den Vorstellungen von Kindern und Kindheit im Kinderschutz und den damit verbundenen Rahmenbedingungen. Die darin enthaltenen deutsch- und englischsprachigen Publikationen sortiert sie anhand der Pole als „abwesend“ und „unsichtbar“ adressierter Kinder einerseits versus Attribuierungen von Kindern als „aktiv“ und „konstruktiv-kompetent“ (28) andererseits. Auch wenn nicht klar ist, inwiefern dieses Sortierschema ihrer Auseinandersetzung mit den Forschungsarbeiten oder/und ihrem theoretischen Rahmen entspringt, liefert es eine hervorragend differenzierte Systematisierung der Randstellung von Kindern in Kinderschutzaktivitäten.

Haase verweist mit ihrer Sortierung darauf, dass Kinder in Kinderschutzabläufen nur selten als „kompetent und fähig“ (43) behandelt werden. Die rare Adressierung von Kindern als „Aktive“, denen die Möglichkeit eingeräumt wird, auf die Ausgestaltung der Kinderschutzmaßnahmen einzuwirken, kontrastiert Haase mit verschiedenen Marginalisierungsformen, die sie dem Forschungsstand entnimmt: ausbleibende Beachtung der Erlebnisse und Anliegen von Kindern („die Unsichtbaren“), Adressierung nur als verletzliche, passive Fürsorgeempfänger:innen ohne eigene Handlungsfähigkeit („die Bedrohten“), Einbindung primär als reine Informationslieferant:innen („die Funktionalisierten“) und Fokussierung auf die Probleme, welche die Kinder (vermeintlich) erzeugen und weniger darauf, welche sie haben („die Devianten“). Diese Adressierungen von Kindern sieht Haase als gerahmt durch verschiedene Kontextaspekte von Kinderschutzabläufen: Konzentration auf das elterliche Problemverhalten und weniger auf „die von den Kindern gezeigten Probleme“ (45); Wiedererstarken kontrollierender Zugangsweisen zu den Eltern und damit Bedeutungsverluste unterstützender Perspektiven; hohe Fallbelastungen der Fachkräfte sowie Reibungsschwierigkeiten und -verluste im Zuge der Multiprofessionalität von Kinderschutzbemühungen. Haase kommt zu dem Schluss, dass im gegenwärtigen Forschungsstand zwar deutlich wird, „wie Professionelle im Kinderschutz […] an Kinder herantreten, welche Bilder von Kindheit, Elternschaft und Gefährdung sie herstellen“; allerdings mangele es an Wissen darüber, „auf welche subjektiven Konstruktionslogiken sie im Blick auf die Kinder zurückgreifen“ (52). Paradoxerweise ist es gerade Haases elaborierte Skizzierung dieses Forschungsstandes zu den „Kindkonstruktionen im Kinderschutz“ (28), die auch den anders gelagerten Eindruck plausibel werden lässt: nämlich, dass der empirische Kenntnisstand zu Kindheitsbezügen im Kinderschutz einen doch recht deutlichen Lageeinblick ermöglicht.

Vor dem so abgesteckten Hintergrund entwickelt Haase ihren theoretischen und methodischen Zugang. Ihr Theorierahmen steht auf dem Boden des Sozialkonstruktivismus und ist im Vulnerabilitätskonzept verankert. Damit bildet Haase die Spannung ab zwischen Elternrechten, staatlichem Wächteramt und Kinderrechten bzw. greift sie Kindheitsvorstellungen zwischen Entwicklungsbedarf, gegenwärtiger Handlungskompetenz und Verletzbarkeit auf.

Vergleichbar zur Forschungsstandaufarbeitung wird allerdings auch beim theoretischen Rahmen der Entstehungshintergrund nicht ganz klar. Zwar zeigt sich eine unverkennbare Verbindung zwischen ihren Untersuchungsbefunden und dem Theoriekonstrukt, das Haase als „ein Ergebnis des Forschungsprozesses“ (77) versteht; das Verhältnis der deduktiv aus theoretischen Überlegungen und induktiv aus der Materialarbeit abgeleiteten Anteile dieses Rahmens wird allerdings nicht systematisch ausgeleuchtet.

Methodisch nähert sich Haase ihrer Forschungsfrage mittels eines in der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) eingewobenen mixed-methods-Ansatzes. Mit Blick auf den Zeitraum von 1984 bis 2014 wertet sie knapp 5.000 Diagnoseakten einer multiprofessionell ausgerichteten „Spezialeinrichtung für die Erstellung von qualifizierten Kinderschutzdiagnostiken“ (89) aus. Die univariat-statistische Aktenanalyse dient als erster Zugriff auf das Untersuchungsmaterial. Damit kann Haase zeigen, dass die Diagnosestellung in Kinderschutzverfahren von gesamtgesellschaftlichen und fachspezifischen „Konjunkturen“ (147) abhängt und maßgeblich auf Informationen der Kinder angewiesen ist. Was als interventionsnotwendiges Problem gilt, wird von „deutungsmächtige[n] erwachsene[n] Akteur*innen“ (148) festgelegt. Diese richten ihr Augenmerk auf Kinder im Zuge von ihnen vermuteter Beeinträchtigungen, nicht aber hinsichtlich „ihre[r] Wünsche oder Interesse[n]“ (148).

Den Kern der Materialarbeit bilden die „vertiefenden Aktenanalysen“ (110) zu 28 Kinderschutzfällen aus den Jahren 2010 bis 2014, die Haase mittels der Kodierschritte der GTM rekonstruktiv analysiert. Sie kommt zum Ergebnis, dass es bei Kinderschutzdiagnostiken primär darum geht, „das Kind zum Sprechen [zu] bringen“ (162). Dem seien Prozesse vorgeschaltet, die darauf zielen, „das Kind zum Fall [zu] machen“ (151), während nachgelagert „das Kind beurteil[t]“ (206) werde. Quer dazu beobachtet sie in die Ablaufroutinen eingelassene Bemühungen, „das Kind in den Fokus [zu] rücken“ (223). Diese Kategorien führt Haase in der umfassenden Kategorie „das Kind als Kronzeuge“ (227) zusammen. Mit dieser „Metapher“ (227) spitzt sie ihre Beobachtung zu, dass in Kinderschutzverfahren Kindern eine Rolle zukommt, die vergleichbar zu der juristischer Kronzeug:innen ausfällt: Nah am ‚Tatgeschehen‘ von außen schwer zugänglicher Kreise sollen sie auf Basis ihrer Einblicke in von ihnen durchlittenen Situationen mit aussagekräftigen und belastbaren Informationen zur „Aufklärung der Sachverhalte“ (228) beitragen, wofür sie mittels „Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen“ (228) aufgefangen werden. Dass Kronzeug:innen juristisch meist als „(Mit-)Täter“ (228) betrachtet werden, führt Haase zwar an und weist dies für ihre Verwendung dieser Metapher zurück; die Frage, ob der ansonsten äußerst überzeugende Vergleich nicht doch schief ist, erscheint damit allerdings nicht gänzlich vom Tisch geräumt.

Der Mehrwert der Studie von Judith Haase liegt weniger darin, Befunde zu produzieren, die im Fachdiskurs bislang unbekannt waren. Der Gewinn entsteht vielmehr dadurch, dass sie die vom Grunde her bekannte Marginalisierung von Kindern – auch in Kinderschutzverfahren – durch ihr methodisch bestechendes Vorgehen als empirisch gesicherten Wissensbestand untermauert und in seinen Ziselierungen verdeutlicht. Sie zeigt unmissverständlich auf, dass die Belange, Stimmen und Interessen von Kindern auch dort keinesfalls zwangsläufig im Vordergrund sind, wo es sich um institutionalisierte Prozesse zur Sicherung ihres Wohls handelt – auch nicht an den Stellen dieser Prozesse, an denen sie explizit „ins Zentrum [gestellt]“ (234) werden.

Besonders eindrücklich ist der von Judith Haase durchgängig und elegant ausgeführte Brückenschlag zwischen der an generationaler Ordnung interessierten (‚neuen‘) Kindheitsforschung und der auf die Lage von Adressat:innen bzw. Nutzer:innen blickenden sozialpädagogischen Hilfeforschung. Sie kann damit Kinder in Kinderschutzverfahren als zweifach Marginalisierte charakterisieren: als Erwachsenen generational untergeordnete Kinder und als „Laien“ (237), die in Hilfeprozessen der Macht Professioneller unterstehen. Durch diese Brillen betrachtet werden somit zum einen die Schutz- und Beteiligungsrechte von Kindern durch Erwachsene gegeneinander ausgespielt. Zum anderen ist in den standardisierten Diagnoseabläufen keine systematische Gelegenheitsstruktur installiert, um die „speziellen Sorgen und Wünsche“ dieser spezifischen Adressat:innengruppe aufzugreifen bzw. „individuelle Anpassungen des Verfahrens“ (239) vorzunehmen.

Es bleibt zu hoffen, dass die von Haase ausblickend aufgeworfenen Fragen in dem von ihr interdisziplinär abgesteckten Feld einer „sozialpädagogischen Kindheitsforschung“ (261) tatsächlich verfolgt werden: so die Frage nach den „Konstruktionen im Blick auf die Eltern oder die involvierten externen Fachpersonen“ (263). Vor dem Hintergrund teilweise stigmatisierender Elternbilder bzw. klischeehafter Vorstellungen jeweils ‚anderer‘ Professionsgruppen in multiprofessionellen Hilfeprozessen erscheint dies als hochgradig relevant.

Zur Zitierweise der Rezension
Maksim Hübenthal (Berlin): Rezension von: Judith Haase: Das Kind als Kronzeuge. Professionelle Konstruktionen des Kinderschutzkindes. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021 (282 S.; ISBN: 978-3-7799-6544-2; 39,95 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am: 18. April 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/04/das-kind-als-kronzeuge/