Die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik und ihre Patient*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Wien / Köln: Böhlau 2022
(506 S.; ISBN: 978-3-205-21541-7; 80,00 EUR)
Seit den 1990er Jahren entstanden zahlreiche Studien, die sich der Aufarbeitung des Unrechts der Zwangsunterbringungen von Kindern und Jugendlichen im 20. Jahrhundert widmen [1]. In den letzten Jahren haben Kinderbeobachtungsstationen als spezifische Institutionen, die an der Schnittstelle zwischen psychiatrischer und pädagogischer Sphäre agierten, da ihnen eine Zuweisungsfunktion im Fürsorgesystem zukam, im deutschsprachigen Raum vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Neben der reinen Aufarbeitung des Unrechts standen hierbei vor allem Wissenspraktiken, wie etwa das Entstehen neuer Diagnosen, im Fokus [2].
Die Studie der Innsbrucker Zeithistorikerin Ina Friedmann, die nicht weniger als eine „Gesamtdarstellung“ (15) der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik, einer Kinderbeobachtungsstation, verspricht, will beides leisten. Erklärtes Ziel der 2020 als Dissertation an der Universität Wien verteidigten Arbeit ist es, eine „Gesamtdarstellung“ und „Einbettung“ der Heilpädagogischen Abteilung „in die zeitgenössische Fürsorgelandschaft“ und gleichsam einen „Beitrag zur Geschichte begutachteter Kindheiten“ zu leisten (15). Dabei geht es ihr explizit nicht nur um die „Charakterisierung der Heilpädagogischen Abteilung als Institution“, einschließlich „ihrer Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs“, sondern auch um „die Rekonstruktion ihres Einflusses auf gesellschaftliche Wahrnehmungen von sozial marginalisierten Personengruppen“ (33).
Die Arbeit basiert maßgeblich auf den Patient:innenakten der zwischen 1912 und 1944 in der Heilpädagogischen Abteilung untergebrachten Kinder und Jugendlichen, insgesamt wurden beeindruckende knapp 5500 Akten ausgewertet. In Kapitel eins liefert Friedmann zunächst eine Institutionengeschichte im klassischen Sinne. Hervorgehoben wird die Gründung der Heilpädagogischen Abteilung im Rahmen der Kinderklinik: Sie war und blieb eine Station der Universitätsklinik, auch wenn Ärzt:innen und Lehrer:innen hier gemeinsam arbeiteten Dementsprechend verstand sich die österreichische Heilpädagogik explizit als „direkte[r] Abkömmling der Psychiatrie“ (87). Die Periodisierung, die Friedman vornimmt, orientiert sich an den Leiter:innen der Abteilung, Erwin Lazar, Valerie Buck und Hans Asperger. Lazar und Asperger, die zahlreiche Studien und Lehrbücher aus ihrer Arbeit in der Abteilung heraus veröffentlichten, werden als zwei zentrale Akteure der sich etablierenden Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Ihr wissenschaftlicher Einfluss reichte, vor allem im Falle von Asperger, weit über Wien hinaus.
Einen weiteren Schwerpunkt des Kapitels bildet die quantitative Auswertung der Patient:innenakten in Bezug auf Alter, Geschlecht und „Unterbringungsverhältnisse vor der Aufnahme“ zwischen 1912 und 1949. Pro Jahr wurden zwischen 27 und 343 Kinder und Jugendliche aufgenommen, die Abweichung nach unten betrifft kriegsbedingt das Jahr 1944. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg betraf die Mehrheit der Unterbringungen (zwischen 56 und 68 Prozent) volksschulpflichtige Jungen, die aus ihrer Ursprungsfamilie heraus überwiesen wurden (147-176).
Das zweite Kapitel stellt die Heilpädagogische Abteilung im Rahmen des Wiener Fürsorgesystems dar. Dort kam ihr die zentrale Rolle zu, eine „Scheidung der ‚wertvollen’ von den ‚minderwertigen, der ‚aufwandswürdigen’ von den aus weiteren Bemühungen auszuschließenden Kindern und Jugendlichen“ vorzunehmen und über die weitere Unterbringung zu entscheiden (193). Eine quantitative Auswertung der unzähligen einweisenden Instanzen unterstreicht die Bedeutung der Abteilung als zentrale ordnende Instanz innerhalb der Wiener Fürsorge. Sowohl die städtischen Schulen als auch Gerichte, Polizei, Kinderärzt:innen und verschiedene Jugendamtseinrichtungen verließen sich auf ihre Expertise.
Nachdem die ersten beiden Kapitel auf rund 250 Seiten das Feld vor allem quantitativ abstecken, folgen vier Kapitel, die in der Logik der Abfolge von Aufnahme, Aufenthalt, Behandlung, Begutachtung und Entlassung verschiedene Aspekte der Arbeit der Heilpädagogischen Abteilung näher betrachten.
Kapitel drei und vier beleuchten durch eine qualitative Auswertung der Akten den Alltag der Abteilung. Neben dem Tagesablauf wird auch der Umgang mit den Patient:innen rekonstruiert. Es werden Behandlungsmethoden, die in die Aktenführung Eingang gefunden haben, beispielhaft vorgestellt, unter anderem „Medikation mit Barbituraten“ (280), „Elektrisieren“ (281) und „lauwarme Duschen“ (282), wobei eine Kontextualisierung dieser Praktiken innerhalb der Psychiatrie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend ausbleibt. Daneben wird ein detaillierter Überblick des Verwaltungsvorgangs der Aufnahme von der Anamnese über allfällige Tests geliefert, der um eine Auswertung weiterer Korrespondenzen und Abklärungen ergänzt wird.
Das Ende der Begutachtung und die über die Abteilung hinausgehende Nachsorge sind das Thema der Kapitel sechs und acht. Hier zeugt der Detailgrad der Darstellung von einer beeindruckenden Aktenkenntnis, ergänzt durch eine quantitative Auswertung nach Entlassungsort und der Empfehlung weiterer Maßnahmen. Friedmann legt überzeugend dar, dass es vor allem die Gutachten waren, die zur Zirkulation des heilpädagogischen Wissens in der Wiener Fürsorgelandschaft beitrugen. Dass dieses Wissen systematisch erhoben und vervollständigt wurde, zeigt sich insbesondere an den Versuchen der Abteilung, den weiteren Werdegang der ‚Zöglinge‘ auch nach deren Entlassung zu erheben. Briefe mit Fragebögen wurden versendet, um die „Langzeitfolgen“ der eigenen Arbeit zu untersuchen (461). Diese insgesamt vier Kapitel geben einen gelungenen Einblick in Aktenführung und Anstaltsalltag – und damit in die Wissenspraktiken der Abteilung, die sich im Laufe der Zeit, auch während des Nationalsozialismus, als äußerst stabil erwiesen.
Mit „Sex and Crime“ bietet das fünfte Kapitel einen inhaltlichen Auswertungsschwerpunkt der Akten. Friedmann zeigt anhand des Aktenmaterials, dass über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ein zentrales Interesse auf der Beobachtung der Sexualität der Patient:innen lag. Schwer auszuhalten sind die von ihr zusammengetragenen zum Teil drastischen Beispiele, gerade was die Pathologisierung von Betroffenen sexualisierter Gewalt angeht.
Kapitel sieben widmet sich der Arbeit der Abteilung und damit v.a. Aspergers Tätigkeit während des Nationalsozialismus. Weder die Aufgabe der Abteilung, diejenigen Kinder, die des „Aufwands“ einer Heilpädagogischen Behandlung „würdig“ waren, von jenen, die es nicht waren, zu unterscheiden, noch ihr Ziel, die „Anpassungswürdigen anzupassen“, änderte sich durch den „Anschluss“ Österreichs (420). Was sich hingegen wandelte, waren die Diagnosen und ihre Konsequenzen, wie Friedmann anhand von einzelnen Akten zeigen kann: Zum Teil wurden die Akten ehemaliger Patient:innen im Rahmen von Erbgesundheitsverfahren an die Gesundheitsämter überstellt. In mindestens fünf Fällen erfolgte eine Überweisung der Patient:innen an die Wiener städtische Nervenklinik für Kinder „Am Spiegelgrund“, einer Einrichtung, in der bis zum Kriegsende Kinder, die als „lebensunwert“ begutachtet worden waren, ermordet wurden. Bei zweien findet sich ein Gutachten Aspergers, das ihre Überweisung dorthin explizit befürwortet (446-447).
Ihrem Ziel, eine „Gesamtdarstellung“ der Heilpädagogischen Abteilung des Wiener Kinderspitals zu liefern, wird Friedmann gerecht, auch wenn die auf Vollständigkeit anlegte Perspektive zuweilen Schwierigkeiten mit sich bringt. Vor allem in den qualitativ fokussierten Kapiteln scheint die außerordentliche Aktenkenntnis, die anhand zahlreicher Beispiele illustriert wird, auf Kosten einer Systematisierung zu gehen. Die Ausführlichkeit der unzähligen Fallbeispiele, die eigentümlich unverbunden nebeneinander stehen bleiben, mögen dem Anspruch einer Gesamtdarstellung nachkommen. Im Hinblick auf einen Beitrag zur Analyse begutachteter Kindheiten gereicht sie zum Nachteil, da die Bedeutung der ins Anekdotische gehenden Beispiele häufig vage und letztlich deskriptiv bleibt.
Insofern bleibt Friedmanns Beitrag zur Geschichte „begutachteter Kindheiten“ eher marginal, vergleicht man sie mit Studien wie der von Hafner zur Kinderbeobachtungsstation in Bern oder Ralsers Untersuchung zur Konstruktion von Subjektivität durch Begutachtung [3]. Dennoch: Friedmann hat mit ihrer Studie eine reichhaltige, sich detailliert an den Quellen orientierende Untersuchung der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik vorgelegt, die als fundierte Gesamtdarstellung einer Institution durchaus Beachtung verdient.
[1] Wright, K., Swain, S. & Sköld, J. (2017). The Age of Inquiry. A global mapping of institutional abuse inquiries. doi.org/10.4225/22/591E1E3A36139.
[2] Vgl. u.a. Dietrich-Daum, E. (2018). Über die Grenze in die Psychiatrie. Sudtiroler Kinder und Jugendliche auf der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl in Innsbruck (1954–1987). Universitätsverlag Wagner; Rose, W., Fuchs, P.& Beddies, T. (2016). Diagnose „Psychopathie“. Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918-1933. Böhlau Verlag.
[3] Hafner, U. (2022). Kinder beobachten. Das Neuhaus in Bern und die Anfänge der Kinderpsychiatrie, 1937-1985. Chronos; Ralser, M. (2010). Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900. Wilhelm Fink.