Bernhard Hemetsberger

Schooling in Crisis

Rise and Fall of a German-American Succes Story
Berlin u.a.: Peter Lang 2022
(256 S.; ISBN: 978-3-631-87446-2; 51,95 EUR)

Mit dieser Wiener Dissertation hat Bernhard Hemetsberger eine hoch interessante Studie vorgelegt, deren Wert man aber nur richtig würdigt, wenn man die „absent views“ (34f.), also die ausgeschlossen Analyseperspektiven bei der Lektüre präsent hält, die der Autor in seiner Einleitung klar benennt. Obwohl für die Zeit seit dem 18. und bis ins 20. Jahrhundert analysiert wird, wie in Deutschland und den USA über Sinn und Wert, Funktion und Leistung des Bildungssystems pädagogisch und politisch, programmatisch und evaluativ geredet wird, handelt es sich ausdrücklich nicht um eine historisch-komparative Abhandlung über Ideen, Systeme, Prozesse und Effekte der Beschulung in diesen Ländern. Ratschläge, gar an Politiker, sind schon gar nicht geplant (34). Hemetsberger legt vielmehr eine Diskursanalyse zum Thema vor, die sich auf einen ganz eigenen Quellenfundus stützt: Als „(Analyzed) Primary Sources“ stützt er sich für die gesamte Zeit auf neun (!) publizierte Texte, die er als repräsentative Artikulation der bildungspolitischen Öffentlichkeit sieht und intensiv interpretiert. Das sind für Deutschland vier Texte: Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde“ von 1768 für Teil 1 („Enlightened Absolutism, Reform and ‚Cosmopolitanism‘“), Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ (1808) für die Zeit bis 1850/60 (Teil 2: „Napoleon, Industrialization and Who‘s ‚We‘“), Nietzsches Rede über „Die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ (1871/72) für das ausgehende 19. Jahrhundert (Teil 3 „Neo-Absolutism/Republicanism, Liberalism and Nationalization“) sowie Georg Pichts Ausrufung der „Bildungskatastrophe“ (1964), die in Teil 4, „System Competition, Sputnik and Global Villages“, den deutschen Part vertritt. Für die USA stehen fünf Texte: Für die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Horace Mann mit drei seiner seit 1837 für Massachusetts verfassten und kontrovers diskutierten „Reports on Education“, sowie Richard Grant Whites berühmte Analyse „The Public School Failure“ von 1880; für das 20. Jahrhundert steht allein die Krisendiagnose des Vizeadmirals Hyman G. Rickover, der 1959 im Kontext des Sputnik-Schocks über „Freedom and Education“ geschrieben hat und gegen reformpädagogische Illusionen für eine standardbasierte, primär an Eliten orientierte nationale Bildungspolitik plädiert hat, folgenreich bis zu „A Nation at Risk“ 1983. Diese im Text intensiv zitierten Quellen – die also den Übergang ins 21. Jahrhundert und die nach PISA-Sequenz von Krisendiagnosen und neuen Forderungen ausblenden – werden jeweils akteur- und situationsbezogen, medial, kontextual und argumentationstheoretisch ausgelegt, eingebettet in eine Vielzahl von „(Illustrated) Secondary Sources“, wobei die gesamte Interpretation wiederum von einer breiten, hier und da selektiv genutzten Sekundärliteratur geleitet ist.

Auf dieser materialen Basis ergibt sich eine Darstellung, die gegenüber Ereignissen und Prozessen eine sehr distanzierte Position einnimmt. Vergleichbar mit Luhmanns Eingeständnis, dass er soziale Systeme „in ungewöhnlicher Abstraktionslage“ betrachte, im „Flug über den Wolken … mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke“ [1], betont Hemetsberger, dass er erst mit seinem „bird‘s eye view“ (19) die „grand tour of crises narratives in Western schooling“ und deren „social functions“ (34) belegen könne. Die ausgewählten Diskurse haben also in der Rhetorik der Krise ihr kontinuierliches Thema. Deren je nationale Zäsuren und Konjunkturen demonstriert der Autor vorab in einer Frequenzanalyse (mit Google NGram Viewer-Daten) deutscher und US-amerikanischer Veröffentlichungen der Zeit von 1780 bis 2008 zu den Themen „Schule, Reform und Krise“. Dann zeigen schon die beiden Grafiken (18, 19) neben vergleichbaren Befunden aber auch, dass der Verlauf der Diskurse in den beiden Ländern nicht deckungsgleich ist. Die Spitzen sind vielmehr um etwa 100 Jahre versetzt, in Deutschland gibt es eine erste Spitze schon um 1800, eine vergleichbar starke in den USA erst um 1900, erst danach vergleichbare Frequenzen. Die Spitzen indizieren zwar thematisch vergleichbare Diskurse, in denen politische, soziale und kulturelle Probleme aber doch je national-kulturell als Krise codiert und, wieder gemeinsam, in hohe Erwartungen an die Leistungen des Bildungssystems übersetzt werden und versprechen, mit der Pädagogisierung der Probleme die höchsten Erwartungen für die Herstellung von – je national different gewichtet – Einheit, Gleichheit, ökonomischem Erfolg, sozialem Aufstieg (etc.) zu erbringen. Allerdings, im Ergebnis betont Hemetsberger (mit der Sekundärliteratur), dass die Versprechen nie eingelöst wurden, und wirft die Frage auf, ob diese permanente Wiederkehr von Krisendiagnose, Bildungsversprechen und Lösungsoptimismus nicht an ihr Ende gekommen sei. Abschließend diskutiert er, ohne eindeutige Antwort, deshalb die Frage, ob das klassische Modell der öffentlichen Beschulung im Grunde erschöpft oder vielleicht durch bessere Rhetorik noch zu retten sei. Die jetzt auch in Deutschland wachsende Tendenz zum Besuch von Privatschulen, in den USA immer schon Residuen klassenspezifischer Privilegierung, liest er als Indiz dafür, dass die „middle class“, für die – so seine These bereits in der Problemexposition im Prolog – das öffentliche Bildungssystem als Instanz für Statussicherung eingerichtet wurde, das ‚Vertrauen‘ in das System verloren habe. Auch die Politik setze schon stärker auf Erziehung, also soziale Kontrolle, statt hohe Erwartungen an Bildung zu favorisieren. Aktuell, so erläutert er mit Krisentheorien von Reinhart Koselleck bis zu Jürgen Habermas und Claus Offe, erfülle das traditionelle Diskursmuster seine Funktion nicht mehr, denn weder legitimatorisch noch präventiv noch zukunftsbezogen könne es jetzt noch das geeignete Instrument des symbolischen Umgangs mit politischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Systemproblemen (eine Trias von Habermas) werden, welches es in Deutschland oder den USA so stark gemacht habe. Für die Verbreitung von alten Illusionen stehen auch nicht mehr die inzwischen skeptisch gewordenen Theoretiker, sondern nur noch die politische Rhetorik, z.B. in Barack Obamas Wahlversprechen oder in Angela Merkels Beschwörung der „Bildungsrepublik“.

Kann Hemetsbergers Analyse überzeugen? Einer historiographischen Kritik entzieht er sich explizit, komparativ sind die Befunde über Gemeinsamkeiten und Differenzen der Diskurse aber doch sehr aufschlussreich, schon weil erneut der alte Mythos destruiert wird, dass deutsche Vorbilder einfach übernommen wurden. Die USA-Debatte lässt sich zwar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von diesem aus inspirieren, aber sie importiert mit Distanz und fügt fremde Ideen reflektiert in den eigenen Kontext ein. Kaum zu bestreiten ist auch die resümierende These, dass Privatschulen Gewinner der aktuellen Bildungssystementwicklung sind, und natürlich trifft zu, dass Bildungssysteme als Orte der Reproduktion sozialer Ungleichheit und der Sicherung hergebrachter Privilegien funktionier(t)en. Krisendiagnosen und -therapien hatten immer auch sozialprotektive und exkludierende sowie – und nicht erst 1933 oder nur in Deutschland – stark antisemitische Funktionen. Hemetsberger erwähnt zwar die konstanten antiindigenen Exklusionsdebatten und -praxen der USA, klammert aber die anderen stabilen Exklusionsmuster aus. [2] Für Deutschland endet Teil 3, der mit Nietzsche 1872 einsetzt, leider schon um 1900, so dass mit der Krise um 1930/33, obwohl der peak in der Frequenzanalyse sie als signifikant ausweist, auch die manifeste antisemitische Argumentation ausgespart wird.

Das führt zu den Grenzen seiner Analyse, schon auf der Diskursebene. Problematisch erscheint mir vor allem, dass – verführt durch die Primärquellen – in den von ihm analysierten Diskursen das Bildungssystem nahezu nur mit dem ‚höheren‘ Bildungswesen thematisiert wird. In den dafür bekannten Funktionszuschreibungen [3] wird aber ignoriert, dass das Bildungssystem mit der allgemeinen Schulpflicht auch der paradoxe Ort wurde, an dem zwar die Unterschichten primär diszipliniert werden sollten, wo sie sich zugleich aber – der politisch so irritierende Eigensinn von Schule! – im Erwerb kultureller Kompetenz emanzipierten, auch gegen die allgegenwärtige politische Indoktrination und auch gegen den in Deutschland wie in den USA verbreiteten Irrglauben an die scheinbar genetisch gegebene und deshalb legitime Verteilung von Begabung und Bildungschancen parallel zur Sozialstruktur, die Jürgen Habermas als „pessimistische Anthropologie“ kritisiert hat. Für die politische Dimension wäre es hilfreich gewesen, neben Nietzsche (und der nationalen Rhetorik des Kaisers von 1890) auch Wilhelm Liebknechts „Wissen ist Macht“, ebenfalls 1872 – und ohne Gegenstück in den USA –, einzubeziehen; gegen den anthropologischen Pessimismus hätte, nicht erst im Picht-Kontext, die Begabungsdiskussion geholfen, die auch ganz fehlt, aber für den Diskurs über „schooling“ zentral ist. Mit John Dewey kommt dieser Strang zumindest für die USA vor, komparativ aber zu gering. Ausgegrenzt ist auch der radikalkritische bildungspolitische Diskurs. Dieser war mit Liebknecht schon früh präsent, in den USA im 20. Jahrhundert zumindest analytisch z.B. bei Bowles und Gintis oder McLaren. [4] Mit seiner Konstruktion der Quellenbasis geht deshalb auch die historisch schon gegenwärtige Kritik des Diskurses selbst verloren, und mit der These von der ergebnislosen Wiederkehr der gleichen Diskurs-Figur verschwindet der radikale Wandel, den das Bildungswesen in den USA wie in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert vollzieht, in der Bildungsbeteiligung, in der Struktur, in der Organisation. Aber das ist Thema der Systemgeschichte, die zwar explizit ausgegrenzt wurde, aber offenbar auch zur Analyse der Rationalität von Diskursen nicht entbehrt werden kann.

[1] Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme (1. Aufl.). Suhrkamp (12 f.).
[2] In der Literatur und im Blick auf die Diskurse habe ich u.a. vermisst: Karabel, J. (2005). The chosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale and Princeton. Houghton Mifflin. (Vgl. meine Rezension in: Zeitschrift für Pädagogik 53(2007), 265-268 ). Karabel kann nachdrücklich zeigen, wie die Ausgrenzung von Juden, Schwarzen, Frauen, Absolventen städtischer high schools oder Unterschichten die Auslesepraktiken der Ivy League Universitäten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konstant bestimmt hat.
[3] Claus Offe hat deren Schwächen im Verweis auf die meist ignorierte Sockelqualifikation, also „z.B. Lesen/Schreiben, sprachliche Qualifikationen, mathematische Grundoperationen“ (226), früh gezeigt, vgl. Offe, C. (1975). Bildungssystem, Beschäftigungssystem – Ansätze zu einer gesamtgesellschaftlichen Funktionsbestimmung des Bildungswesens. In Deutscher Bildungsrat. Bd. 50. (S. 215–252).
[4] Habermas, J. (1961). Pädagogischer Optimismus vor dem Gericht einer pessimistischen Anthropologie. Schelskys Bedenken zur Schulreform. In Neue Sammlung 1. (S. 251-278); für die USA-Diskussion zeitgleich die Kontroverse über die rassistische Argumentation bei Jensen, A. R. (1969). How Much Can We Boost I.Q. and Scholastic Achievement? Harvard Educational Review 39(1), 1–123; und für die Diskussion Harvard Educational Review (Spring and Summer 1970); systematisch sehr hilfreich Gould, S.J. (1981). The Mismeasure of Men. Norton.
[5] Peter McLarens Studien zur “Critical Pedagogy” mögen zeitlich zu spät liegen, aber die Studie von Samuel Bowles und Herbert Gintis „Schooling in Capitalist America. Educational Reform and the Contradictions of Economic Life“ ist bereits 1976 erschienen (dt. 1978), zeitgleich zu anderen Studien, die Hemetsberger sehr wohl berücksichtigt.

Zur Zitierweise der Rezension
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin): Rezension von: Bernhard Hemetsberger: Schooling in Crisis. Rise and Fall of a German-American Succes Story. Berlin u.a.: Peter Lang 2022 (256 S.; ISBN: 978-3-631-87446-2; 51,95 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 26. Januar 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/01/schooling-in-crisis/