Eva Matthes / Stefan T. Siegel / Thomas Heiland

Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft?

Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(271 S.; ISBN: 978-3-7815-2465-1; 36,00 EUR)

Online abrufbare Videoclips, die den Anspruch erheben, Unterrichtsinhalte verständlich zu vermitteln, etablieren sich zunehmend vom Nischenangebot zur primären Infoquelle für Jugendliche, bei dem einige Anbieter in Konkurrenz zum Lernhilfe-Markt auch kommerziell erfolgreich sind. Genutzt werden solche Videos zur Wiederholung von im Unterricht unverstandenen Inhalten, zur Hausaufgabenhilfe und für Prüfungsvorbereitungen. Vermutlich nutzen auch etliche (v.a. fachfremd unterrichtende) Lehrkräfte solche Videos zur Unterrichtsvorbereitung. Ihr Vorzug ist eine extrem verbesserte Zugänglichkeit gegenüber traditionellen Unterrichtsmedien aufgrund des besonders hohen Maßes an stilistischen und sprachlichen Anpassungen an die Zielgruppe sowie einer steten Verfügbarkeit im Netz. Rezipient*innen können sie so in ihrem Lerntempo nutzen und fallen bei Verständnisproblemen nicht auf. Beworben wird auch die Video-Erstellung im Unterricht als moderne Version des ‚Lernens mittels Lehren’.

Im vorliegenden Band, hervorgegangen aus dem von der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung” geförderten Projekt LeHet (‚Förderung der Lehrkräfteprofessionalität im Umgang mit Heterogenität’), analysieren Erziehungswissenschaftler*innen und Fachdidaktiker*innen diesen neuen Medientyp in drei Zugängen.

Im ersten Teil gehen vier „Grundlegende Beiträge“ auf übergreifende Aspekte ein: Den (überschaubaren) Forschungsstand, Abrufstatistiken sowie allgemeine technische und inhaltliche Qualitätskriterien zur Konstruktion solcher Videos; eine Analyse von elf schulbezogenen Erklärvideo-Kanälen auf YouTube mit einem eigens entwickelten Kriterienraster; geschlechterstereotype, sexistische Tendenzen in Videos eines stark nachgefragten Kanals; eine Bestandsaufnahme der als ausbaubedürftig eingeschätzten curricularen Verankerung audiovisueller Medien in bayerischen Lehrplänen.

Im zweiten Teil “Analysen von Lehrvideos aus domänenspezifischer Perspektive” werden in acht Beiträgen exemplarisch Videos zu Inhalten aus sechs Unterrichtsfächern in Hinblick auf sprachanalytische, fachwissenschaftliche, medien- und fachdidaktische Qualitätsmerkmale untersucht.

Im dritten Teil behandeln sieben Beiträge, wie „Lehrvideos in der Lehramtsausbildung und in der universitären Weiterbildung“ thematisiert werden können: Mit fachunterrichtsbezogenen Analysen und Evaluationen; als Reflexionsanlass zur Förderung von Erklärkompetenz; ihre Erstellung in fach¬didaktischen Seminaren (Politische Bildung, Geschichte und Biologie) sowie – unterstützt von Studierenden – in einem Sachunterrichts-Projekt; in Weiterbildungsseminaren für Lehrer*innen mit ausländischen Abschlüssen. Der achte Beitrag verdichtet die Beurteilungsmaßstäbe aus allen vorstehenden Beiträgen zu einem Kriterienkatalog mit fünf Kategorien und 19 Teilaspekten.

Bereits zu Beginn wird eingeräumt, dass die einzelnen Beiträge ganz unterschiedliche Bezeichnun¬gen für diesen Medientyp verwenden (u. a. online-, Lehr-, Lernvideos oder Video-Tutorials; in englischen Abstracts explanatory oder instructional videos), die mal voneinander abgrenzt, mal synonym verwendet werden. Diese begriffliche Unschärfe ist Ausdruck der Vielfalt an Videotypen: In einer als noch unvollständig bezeichneten Liste (S. 25) werden elf aufgeführt, die sich in Hinblick auf Produktionsstile, Darstellungsformen und Vermittlungsintentionen unterscheiden, darunter Video-Blogs, Screencasts, Vortragsauf-zeichnungen, Trickfilme und gefilmte Handlungsdemonstrationen. Auch der im Titel gewählte Begriff „Erklärvideo” wird problematisiert, weil er die Bedeutung des mündlichen und schriftlichen „Erklärens“ akzentuiere, wohingegen das Interesse an diesen Videos vor allem in ihrer Multicodalität vermutet wird.

Die im ersten Beitrag angegebenen Abrufstatistiken für 15 Videos zu Themen aus drei Fächern sind eindrucksvoll: Zehn Videos mit mehr als 100.000 Aufrufen, davon fünf mit mehr als 500.000 und zwei (Lineare Funktionen / Schriftliches Dividieren) mit mehr als einer Millionen Aufrufen. Empirische Ergebnisse zur Lernwirksamkeit solcher Videoclips werden nicht referiert und sind angesichts des dafür erforderlichen Forschungsaufwands auch zukünftig allenfalls für kleine Fallstudien zu erwarten. Zweifel am Lernertrag werden mit der Bemerkung angedeutet, Betrachter*innen könnten aufgrund der i. d. R. faszinierenden Darstellungen “Verstehensillusionen” erliegen.

Mehrere Beiträge diskutieren die Nachteile, mit der die gegenüber offiziellen Bildungsmedien stark verbesserte Zugänglichkeit erkauft wird:
– Im Bemühen, mit salopper Alltagssprache an Denk- und Sprachmuster mutmaßlicher Rezipient*innen anzudocken, bleiben fachsprachlich korrekte Begriffe und die fachwissenschaftliche Genauigkeit auf der Strecke.
– Zugunsten vereinfachender Darstellungen komplizierter Sachverhalte wird „Mehrdeutiges“, „Strittiges“ oder „Ungeklärtes“ nicht thematisiert.
– Bei der Videokonstruktion für fiktive Rezipient*innen können keine individuellen Lern¬vor-aussetzungen berücksichtigt werden.
– Während Lehrkräfte im Unterricht aus mehr oder weniger klaren verbalen oder nonverbalen Signalen auf Verständnisschwierigkeiten schließen und dann modifizierte Erklärungen anbieten können, müssen Rezipient*innen ihre Probleme verständlich formulieren (nicht selten eine unüberwindliche Hürde). Ob andere Nutzer*innen dann hilfreiche Erläuterungen anbieten, bleibt dem Zufall überlassen.
– Rezipient*innen haben nur beschränkte Möglichkeiten für eigene Rückmeldungen mittels „likes” und Kommentaren.
– Der Nutzen von z.T. angebotenen Übungs- und Vertiefungsaufgaben ist angesichts eines fehlenden Feedbacks fraglich.

Überwiegend positiv eingeschätzt wird der Lernertrag aus fachdidaktischen Seminaren, in denen Videoclips analysiert oder erstellt wurden: Die Eigenproduktion solcher Videos fördere die Fähigkeit zur didaktischen Reduktion und die Kompetenz zum Erklären von Unterrichtsinhalten; die Analyse online abrufbarer Videos (auch solche von minderer Qualität) fördere „domänenspezifische Kompetenzen“ zur fachwissenschaftlichen und -didaktischen Beurteilung. Dagegen fällt das Resümee zum einzigen unterrichtsbezogenen Grundschul-Projekt durchwachsen aus: Zwar gäbe es „Hinweise darauf, dass die Schüler*innen Freude beim Erstellen der Erklärvideos hatten“; jedoch nennen die Lehrkräfte fast nur Nachteile. Da Ergebnisse zum fachlichen Lernertrag fehlen, bleibt unklar, ob mit diesem Vorhaben der Anspruch des Konzepts „Lernen mittels Lehren“ eingelöst werden konnte.

Das Plädoyer der Autor*innen, in Anbetracht der starken Verbreitung und großen Beliebtheit dieses Formats diese Thematik in der Lehrerbildung intensiver zu behandeln, leuchtet ein. Die Auseinandersetzung damit ist allein schon wegen der o.g. Grundprobleme sowie der Qualitätsdefizite in vielen Videoclips gerechtfertigt. Ein weiteres Argument ist das in einem Beitrag referierte, u.U. verallgemeinerbare Befragungsergebnis, wonach ein größerer Teil von Studierenden kaum in der Lage ist, die ihr Unterrichtsfach betreffenden Videos auf inhaltliche Korrektheit und wissenschaftliche Angemessenheit zu überprüfen.

Es ist das Verdienst der Autor*innen, mit exemplarischen Analysen Anregungen dafür zu geben, wie eine kritische Auseinandersetzung mit diesem neuen Medientyp erfolgen kann. Besonders der im letzten Beitrag vorgestellte Katalog mit „(Medien-)Pädagogisch-Didaktischen“, „Lernpsychologischen“, „Filmanalytischen“, „Technischen“ und „Rechtlichen Qualitätskriterien“ ist dafür ein geeignetes Instrument, wenngleich– wie auch von Autor*innenseite eingeräumt – noch ausbaufähig. Ein Desiderat des Buchs sind Analysen zur Nutzung dieses Medientyps im Unterricht. In drei Beiträgen wird kurz darauf hingewiesen, dass derartige Videoclips für ‘blended learning-’ oder ‚flipped classroom-‘Konzepte geeignet sein könnten. Wie sie angesichts der angeführten Unzulänglichkeiten den Umgang mit Heterogenität fördern könnten, wird jedoch in keinem Beitrag ausgeführt.

Letztlich unbeantwortet bleibt die im Titel aufgeworfene Frage, ob hier das „Bildungsmedium der Zukunft“ vorgestellt wird. Überraschend wirkt die optimistische Behauptung in etlichen Beiträgen, dieser Medientyp habe großes Potenzial, wobei mutmaßliche Vorzüge meist mit den Hilfsverben „kann“ oder „könnte“ eingeleitet werden. Der apodiktischen Feststellung im Einführungsbeitrag, „es sei nicht (mehr) die Frage, ‚ob’man mit Erklärvideos besser lernt, sondern wie man mit Erklärvideos besser lernt“, ist entgegenzuhalten, dass dafür deren Bildungswirksamkeit in non-formalen Lernprozessen und erst recht deren Eignung als Unterrichtsmedium überhaupt erstmal belegt werden müsste.

Zur Zitierweise der Rezension
Ulf Mühlhausen (Hannover): Rezension von: Eva Matthes / Stefan T. Siegel / Thomas Heiland: Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft?. Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021 (271 S.; ISBN: 978-3-7815-2465-1; 36,00 EUR). In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am: 26. Januar 2023), URL: https://ewrevue.de/2023/01/lehrvideos-das-bildungsmedium-der-zukunft/