Europäische pädagogische Perspektiven
Wien: LIT Verlag 2021
(158 S.; ISBN: 978-3-643-50993-2; 29,90 EUR)
Der von Henning Schluß, Hanna Holzapfel, Christian Andersen und Heinz Ganser herausgegebene Band entwickelt ein vielgestaltiges und facettenreiches, transnationales Panorama von pädagogischen Perspektiven auf die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 verbundenen Transformationsprozesse in osteuropäischen Staaten – von der ehemaligen DDR, über Polen, die Ukraine bis nach Rumänien – und deren bis heute identifizierbaren Folgen. Der Begriff ‚pädagogisch‘ wird dabei weit gefasst und reserviert für sehr unterschiedliche Gegenstände – von Prozessen der intergenerationalen Tradierung von Erinnerungen in Familienkontexten bis hin zur Entwicklung von nationalen Schulsystemen vor und nach 1989 –, die mit sehr unterschiedlichen Zugängen – von systematischen erziehungs- und bildungsphilosophischen bis hin zu geschichtswissenschaftlichen Methoden – rekonstruiert werden. So wie bei anderen zentralen, transnational bedeutsamen historischen Ereignissen auch – man denke etwa an den 8. Mai 1945 oder den Holocaust [1] – kommen dabei eine Vielzahl von manchmal gegenläufigen kollektiven und individuellen autobiographischen Erinnerungen, nationalen Geschichtsbildern und geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktionen zum Tragen. Sie legen offen, was mit dem Fall des Eisernen Vorhangs jeweils in nationaler und europäischer Perspektive und mit Bezug auf pädagogische Problemvorgaben faktisch in Gang gesetzt wurde und nachträglich assoziiert werden kann und welche Brüche und Kontinuitäten damit in ideen- und sozialgeschichtlicher Hinsicht verbunden waren und sind.
Den Anfang macht Dariusz Stepkowski mit einem interessanten Beitrag, der die Entwicklung und Nutzung des Begriffs „ksztalcenie“ in polnischen (allgemein-) pädagogischen Kontexten nachzeichnet und zugleich mögliche historische Gründe für Verschiebungen in der Deutung und Anwendung des Begriffs in sich wandelnden soziopolitischen Kontexten rekonstruiert (etwa die Folgen der Subsumierung von Pädagogik unter die politischen Vorgaben sozialistischer Erziehungstheorie). Dabei arbeitet er Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen „ksztalcenie“ und dem deutschsprachigen Begriff der Bildung heraus und kann plausibilisieren, dass die Entwicklung von „ksztalcenie“ keineswegs auf einen bloßen Import des deutschen Bildungsbegriffs nach Polen zurückgeht. Stepkowski zeigt so nicht nur auf, dass sich funktionale und zumindest teilweise semantische Äquivalente zur Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung in der polnischen und auch in vielen anderen ost- und mitteleuropäischen Sprachen finden lassen. Er macht zugleich anschaulich und nachvollziehbar, wie schwer sich Probleme der Übersetzung pädagogischer Begriffe in unterschiedliche (Fach-)sprachen bearbeiten lassen und wie komplex die damit verbundenen theoretisch ambitionierten Ein- und Zuordnungsversuche sind.
Im nächsten Beitrag zeichnet Ulrich Wiegmann am Beispiel der Autobiographien prominenter ostdeutscher Erziehungswissenschaftler nach, wie der Fall der Mauer und die damit verbundenen institutionellen, beruflichen und persönlichen Transformationsprozesse verarbeitet wurden. Wiegmann, der kürzlich zusammen mit Heinz-Elmar Tenorth eine umfangreiche Studie zur Geschichte der DDR-Pädagogik und -Erziehungswissenschaft vorgelegt hat [2], rekonstruiert zunächst , wie die entsprechenden Protagonisten (Karl-Heinz Günter, Artur Meier und Günter Neuner) die mit dem Mauerfall einsetzenden historischen Veränderungen für sich interpretiert haben, wie sie sich damit in ihrer beruflichen und privaten, wissenschaftlichen und politischen Selbst- und Weltdeutung arrangiert oder nicht arrangiert haben und wie sich dies dann in der Bewertung und Auseinandersetzung mit der neuen bundesrepublikanischen Realität äußerte. Darauf aufbauend befasst er sich mit der teilweise bis heute brisanten Frage nach der Tätigkeit von Wissenschaftler_innen als sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter_innen, d.h. Stasimitarbeiter_innen in der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften.
Ein solcher Inoffizieller Mitarbeiter steht auch im Zentrum des lesenswerten Beitrags von Henning Schluß und Hanna Holzapfel, der sich mit der Lebensgeschichte des Radiomoderators Lutz Bertram befasst. Die Aufdeckung von Bertrams Stasivergangenheit war auch deshalb besonders verstörend und enttäuschend für viele seiner Hörer_innen, weil Bertram auch nach der Wende als besonders kritischer und aufklärerischer Geist galt, der dafür bekannt war, die von ihm interviewten Gäste schonungslos zu befragen. Der Beitrag rekonstruiert so die Enttäuschungen von Bertrams Fans nach der Aufdeckung seiner Stasitätigkeit und die erst in der Retrospektive offenkundigen diskursiven Verrenkungen, die Bertram etwa im Interview mit Christa Wolf vornehmen musste, wann immer die Frage eines angemessenen Umgangs mit der Stasivergangenheit im Gespräch aufkam. Zugleich spart er dabei die durch Schicksalsschläge, systemische Zwänge und den Willen, trotzdem zu reüssieren, geprägte DDR-Biographie Bertrams nicht aus, die dieser Geschichte eines als öffentlicher Aufklärer wahrgenommenen Akteurs, der seine eigenen Ideale verraten hat, einen insgesamt traurig anmutenden, teilweise auch tragischen Charakter verleiht.
Der Beitrag von Sabine Krause setzt sich mit (auto-)biographischen Perspektiven eigener Familienmitglieder auf die Teilung Deutschlands am Beispiel des Westberliner Ortsteils Staakens auseinander, der durch den Bau der Mauer getrennt wurde. Gegenstand der Analyse sind dabei Erinnerungen, tradierte Geschichten und Interpretationen von fotographischen Quellen, die unterschiedliche Perspektiven auf die Teilung und deren Folgen für das soziale Miteinander aufzeigen. Aufbauend auf ihrer Analyse des zusammengetragenen Materials diskutiert Krause Möglichkeiten der methodologischen Einordnung des Verhältnisses von (Auto-)biographien und historischer Forschung sowie erziehungs- und bildungswissenschaftliche Fragestellungen, die die Themen der privaten und öffentlichen Erinnerung aufwerfen.
Tomáš Kasper setzt sich in seinem Beitrag mit reformpädagogischen Konzepten aus der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei nach dem zweiten Weltkrieg auseinander. Er kann eindrücklich zeigen, wie diese Konzepte in dem durch marxistische Theorievorgaben dominierten Diskurs systematisch exkludiert, diffamiert („bürgerlich“ usf.) und aus relevanten pädagogischen Debatten ausgeschlossen wurden. Das dabei zum Tragen kommende Muster eines politisch motivierten, rein dogmatisch `begründeten´ Ausschlusses sollte – auch mit Bezug auf heutige Debatten – als mahnendes Beispiel dafür dienen, wie eine öffentliche und wissenschaftliche Debatte nicht ablaufen sollte.
Tomáš Janík und Marcela Janíková schließen in ihrem Beitrag an dieses Thema insofern an, dass sie unterschiedliche Etappen der Entwicklung des tschechischen Schulsystems im Zuge der Wende von 1989 rekonstruieren. Dabei unterscheiden sie drei Phasen und damit einhergehende Entwicklungstendenzen von dem staatssozialistischen Bildungssystem nach sowjetischem Muster hin zu einem demokratischen und pluralistisch ausgerichteten System und kontextualisieren die Ergebnisse ihrer Analyse mit Bezug auf ähnliche und abweichende Transformationsprozesse in anderen postsowjetischen Bildungssystemen.
Während sich der daran anschließende Beitrag von Maksym Didenko und Lilli Berlinska mit aktuellen Herausforderungen inklusiver Bildung in der Ukraine befasst, setzen sich die Beiträge von Chistine Salmen und Gudrun Gutt aus je unterschiedlicher Perspektive mit dem Umbruch von 1989 in Rumänien auseinander. Salmen beschäftigt sich mit autobiographischen Erzählungen über das Leben in Rumänien vor und nach 1989, Gutt mit einer Analyse der rumänischen Revolution aus Sicht der österreichischen Berichterstattung, die sie selbst als Zeitzeugin miterlebt und an deren Realisierung sie praktisch als Journalistin beteiligt war.
Der Band zeigt, wie unterschiedlich sich die mit dem Jahr 1989 markierten pädagogischen Prozesse und insbesondere ihre Folgen für Individuen und Bildungssysteme je nach soziopolitischem Kontext darstellten und auch wie vielgestaltig die jeweiligen im Band exemplarisch versammelten Zugänge und Deutungsversuche bis heute aussehen können. Insgesamt und mit Blick auf den Untertitel „Europäische pädagogische Perspektiven“ hätte man sich gewünscht, dass – trotz aller methodischen Schwierigkeiten, die mit Vergleichen in der Regel einhergehen – auch eine komparativ justierte Perspektive auf die unterschiedlichen Entwicklungen noch stärker vertreten gewesen wäre. Mit Blick auf die weitreichenden ‚Folgen‘ von 1989 wäre zudem auch ein stärkerer und systematischerer Fokus auf die Einbettung der Beiträge in aktuelle Debatten über Erinnerungspolitik und Erinnerungspädagogik wünschenswert gewesen, wobei man z.B. die Rolle des Sowjetimperialismus und -kolonialismus in kontemporären erinnerungspolitischen und -pädagogischen Debatten in den Blick hätte nehmen können. Man kann konzedieren, dass man selbstverständlich nicht alle interessanten Themen in einem Band abarbeiten kann, und dass allein mit Blick auf die unterschiedlichen im Band vertretenen Länder und Perspektiven ja auch die wissenschaftlichen Herausforderungen, die mit solchen Projekten einhergehen, offensichtlich immer anspruchsvoller werden. Die in dem Band verhandelten Themen sind jedenfalls nicht nur angesichts eines derzeit auf Grund des Krieges in der Ukraine gesteigerten öffentlichen Bedürfnisses nach Information und Aufklärung über osteuropäische Geschichte und die Relevanz, die ihr im russischen „Informationskrieg“ zugeschrieben wird, hochaktuell. Der Band kann daher allen historisch Interessierten empfohlen werden.
[1] Diner, D. (2020). Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. bpb: Bundeszentrale für politische Bildung
[2] Tenorth, H. E., & Wiegmann, U. (2022). Pädagogische Wissenschaft in der DDR. Ideologieproduktion, Systemreflexion und Erziehungsforschung. Studien zu einem vernachlässigten Thema der Disziplingeschichte deutscher Pädagogik. Klinkhardt.