A History of the Napolas
Oxford: Oxford University Press 2021
(524 S.; ISBN: 978-0-19-872612-8; 90,00 GBP)
Die Einrichtung internatsförmig organisierter Eliteschulen für die Ausbildung einer neuen, nationalsozialistischen Vorstellungen entsprechenden Führungsschicht zählt zu den bemerkenswertesten Maßnahmen des ‚Dritten Reichs‘ auf dem Schulgebiet. In der historischen Forschung hat diese Neuerung allerdings das ihr gebührende Interesse nicht gefunden. So ist mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert seit dem Erscheinen der ersten und bisher einzigen Gesamtdarstellung vergangen. [1] Während den stärker auf die Ausbildung des Führernachwuchses für die Parteiorganisationen zielenden Adolf-Hitler-Schulen seither immerhin noch vereinzelt zusammenfassende Darstellungen gewidmet worden sind [2], hat sich die Forschung im Falle der auf die Elitebildung in einem breiteren Sinne ausgerichteten, nach Existenzdauer und Besucherzahl bedeutenderen Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (abgekürzt NPEA oder Napola) auf einzelne Einrichtungen oder ausgewählte Aspekte beschränkt. [3] Umso erfreulicher ist daher nun das Erscheinen einer ganz auf diese Einrichtungen konzentrierten Darstellung, für deren Abfassung zudem kaum jemand geeigneter erscheinen könnte als die englische Kulturhistorikerin Helen Roche, die sich schon seit über einem Jahrzehnt auf diesem Themenfeld bewegt und dazu auch bereits intensiv publiziert hat. [4]
Als vorläufigen Abschluss dieser Arbeit legt Roche nun eine Studie vor, die allein durch ihren Umfang und durch die Breite ihrer Materialbasis beeindruckt. Neben den Beständen aller einschlägigen Archive – von den Bundes- und Landesarchiven in Deutschland und Österreich bis zu Schularchiven in Großbritannien, Irland und den USA – hat sie zahlreiche Periodika, darunter die von den Anstalten und nach dem Krieg von Ehemaligenvereinigungen herausgegebenen Mitteilungsblätter, sowie die inzwischen in großer Zahl veröffentlichten Erinnerungsberichte ausgewertet. Außerdem hat Roche Gespräche und Korrespondenzen mit mehr als hundert ehemaligen Napola-Schüler:innen geführt.
Die auf dieser Basis entstandene Darstellung gliedert sich in drei große Abschnitte. Im ersten wird zunächst die Entstehung und Entwicklung der NPEA auf politischer Ebene verfolgt, ehe dann in den beiden umfangreichsten Kapiteln der Studie das Innenleben der Anstalten vorgestellt wird. Vom mehrstufigen Auswahlprozess über den ideologisch durchformten und zugleich methodisch bei der Reformpädagogik sich bedienenden Unterricht und das von strenger Zeitplanung und militärischen Strukturen geprägte Alltagsleben bis zum reichhaltigen Angebot an sportlichen, aber auch künstlerischen Betätigungen, den mehrwöchigen Einsätzen in Landwirtschaft, Industrie und Bergbau sowie dem Schüler:innen- und Lehrer:innenaustausch mit englischen und amerikanischen Schulen werden alle wichtigen Aspekte des Anstaltslebens auf ebenso informative wie anschauliche Weise behandelt. Anzumerken ist allerdings, dass Roche in ihrer Darstellung auf Zahlenangaben weitgehend verzichtet. So erfährt man nichts über die Zahl der Schüler:innen und der Erzieher:innen in den diversen Anstalten und deren Entwicklung über die Zeit, über die Zahl der Absolvent:innen und Abgänger:innen, der Veranstaltungen und Angebote etc. Man muss kein eingefleischter Sozialhistoriker sein, um dies als Manko zu empfinden.
Im zweiten Abschnitt der Studie entwirft Roche dann eine Art Typologie der NPEA, die sich an den Differenzen bezüglich weltanschaulicher Tradition, regionaler Zugehörigkeit und Geschlecht orientiert. Ersterer kam dabei nach den Befunden der Verfasserin die geringste Bedeutung zu, gelang es doch recht umstandslos, in weltanschaulich ganz andersartigen Traditionen wurzelnde Anstalten wie etwa Schulpforta ideologisch gleichzuschalten. Eher für Varianz sorgten dagegen – neben dem Geschlecht – zum einen der überkommene Länderpartikularismus, zum anderen standortbedingte Sonderaufgaben wie der Kampf gegen den Katholizismus in der ‚Ostmark‘ oder die ‚Germanisierung‘ in den besetzten Gebieten im Westen und Osten. Roche gelingt es in diesem Abschnitt, Detailkenntnis und Strukturierungsfähigkeit in glücklicher Weise verbindend, einen Überblick über die Gesamtheit der Anstalten zu bieten, der dem in der Überschrift formulierten Anspruch, „Variety within Unity“ (195) zu zeigen, vollauf gerecht wird.
Der dritte, vom Umfang her kürzeste Abschnitt der Studie ist dann der letzten Phase in der Geschichte der NPEA gewidmet: ihrer Entwicklung in der Zeit des totalen Krieges, ihrer Auflösung in den letzten Kriegswochen und dem Schicksal der ehemaligen Schüler:innen in der Nachkriegszeit. In diesem Zusammenhang geht Roche auch auf die im Zuge der Entnazifizierung entwickelten Entlastungsnarrative einer weitgehend unpolitischen, dafür dem Überleben in schwierigen Zeiten dienlichen Erziehung in den NPEA und deren Pflege in den Ehemaligenvereinigungen ein. Ein knapp gehaltenes Fazit schließt die Darstellung ab, deren Nutzung durch Glossar und umfangreiches Register erleichtert wird.
Einleitend bezeichnet es die Verfasserin als ihr zentrales Anliegen, Bildungsgeschichte als Zeitgeschichte und als Alltagsgeschichte zu schreiben. Beides erscheint gelungen. Während der alltagsgeschichtliche Ansatz vor allem in den Kapiteln zum Anstaltsleben und zur Auflösung der NPEA erkennbar wird, prägt das Bemühen um Anschluss an die Zeitgeschichte die gesamte Darstellung. So sucht Roche mit von Kapitel zu Kapitel wechselndem Fokus nachzuweisen, dass die allgemeinen Tendenzen und Probleme nationalsozialistischer Herrschaft sich in der Geschichte der NPEA widerspiegeln und umgekehrt deren Studium neue Facetten jener Herrschaft sichtbar werden lässt. Neben der Bezugnahme auf Themen, die in der NS-Forschung schon länger diskutiert werden – wie etwa der polykratische Charakter des Herrschaftssystems oder die (ambivalente) Haltung zur ‚Frauenfrage‘ –, sucht die Verfasserin vor allem Anschluss an das Konzept der ‚Volksgemeinschaft‘, das in den jüngeren Debatten einen prominenten Platz einnimmt. [5] Sie stellt sich dabei auf die Seite jener, die dafür plädieren, die Formel von der Volksgemeinschaft nicht nur als eine ‚wirkungsmächtige soziale Verheißung‘, sondern auch in ihrem Realitätsgehalt ernst zu nehmen. Zentrale Bestandteile der Volksgemeinschaftsidee, nämlich die Gewährung von sozialen Aufstiegs- und Selbstverwirklichungschancen, seien, so meint die Autorin, in den NPEA sogar stärker als in jeder anderen nationalsozialistischen Einrichtung realisiert worden, weshalb man ihre Zöglinge durchaus als „‚avant-garde of the ‚Volksgemeinschaft‘“ (424) bezeichnen könne. Diese Behauptung erscheint allerdings angesichts der Tatsache höchst fragwürdig, dass die Autorin auf der gleichen Seite eingesteht, Mittelschichtkinder hätten unter den Zöglingen der NPEA dominiert, und dass in ihrer Darstellung der elitäre Charakter der Einrichtungen deutlich herausgearbeitet wird, der bei der Begegnung mit dem realen ‚Volk‘ auch verschiedentlich zu Spannungen führte.
Die ständige Verknüpfung der Geschichte der NPEA mit der allgemeinen Geschichte des Nationalsozialismus zählt zweifellos zu den großen Stärken der Studie. Gerade in den zuletzt referierten Aussagen offenbaren sich aber auch gewisse Schwächen. So kann die Verfasserin nicht immer – und am wenigsten in Einleitung und Fazit – der Versuchung widerstehen, die Bedeutung ihres Forschungsgegenstands mit großem Nachdruck hervorzuheben und dabei mit starken Behauptungen zu operieren, die durch die Darstellung nicht durchweg gedeckt erscheinen. Dazu gehört auch die – aus bildungshistorischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht natürlich besonders interessierende – Behauptung, dass die Erziehungsarbeit der NPEA „was arguably effective to a substantial degree, when considered on its own terms“ (10). Zweifellos erscheint es gerade bei einem Erziehungsprogramm wie dem nationalsozialistischen nicht nur legitim, sondern sogar dringend geboten, der Frage nach der Effektivität von Erziehungseinrichtungen und -maßnahmen nachzugehen und moralische Bedenken dabei hintan zu stellen. Allerdings wäre dann auch zu sagen, wie diese Frage beantwortet, wie also über Gelingen oder Misslingen befunden werden soll. Dass dies im vorliegenden Fall nicht geschieht, dass systematische Überlegungen dazu fehlen, ist ein Manko, das Folgen hat. Denn die ansonsten – etwa wenn es um die Herausarbeitung des durch und durch politischen Charakters der Erziehung in den NPEA geht – konzise und überzeugende Argumentation bleibt hier vage, die Beweisführung oszilliert zwischen mehr oder weniger plausiblen Annahmen, Extrapolationen aus (günstigen) strukturellen Voraussetzungen und der Vorlage von in ihrer Aussagekraft fragwürdigen Belegen wie Berichten in den Schulblättern oder Korrespondenzen der Jungmannen mit den Kameraden im Feld. Ob und wie weit man über dieses Niveau hinausgelangen kann, wäre zu erproben – durch Auswertung von Quellen, die über den Entwicklungsstand der Zöglinge in den relevanten Persönlichkeitsdimensionen Auskunft geben können, Inspektionsberichte und Schülerarbeiten etwa, soweit vorhanden, oder über eine methodisch elaborierte Analyse der Erinnerungsberichte, wie sie Gabriele Rosenthal verschiedentlich vorgenommen hat. [6] Die Frage nach der Effektivität der Erziehung in den NPEA ist mit der vorliegenden Studie jedenfalls nur erst einmal gestellt, aber noch keinesfalls beantwortet.
Helen Roche hat mit der vorliegenden Studie, so lässt sich als Resümee festhalten, das Thema der nationalsozialistischen Eliteschulen auf eindrucksvolle Weise wieder in den Fokus bildungs- wie zeitgeschichtlicher Forschung gerückt. Sie bietet im Rahmen der von ihr gewählten Schwerpunkte eine detailreiche und gut strukturierte Darstellung, die den Boden für weitere Detail- und Fallstudien bereitet. Sie stellt auf überzeugende Weise Verbindungen zur zeitgeschichtlichen Forschung über den Nationalsozialismus her und eröffnet schließlich gerade dort, wo sie Fragen unzulänglich beantwortet, Anschlussmöglichkeiten für eine stärker bildungsgeschichtlich orientierte Forschung.
[1] Scholtz, H. (1973). Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates. Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Vgl. etwa Feller, B. & Feller, W. (2001). Die Adolf-Hitler-Schulen. Pädagogische Provinz versus ideologische Zuchtanstalt. Juventa-Verl.
[3] Vgl. z.B. Schneider, C., Stillke, C., & Leineweber, B. (1996). Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburger Ed.
[4] Vgl. schon ihre Dissertation: Roche, H. (2013): Sparta’s German Children. The Ideal of Ancient Sparta in the Royal Prussian Cadet Corps, 1818-1920, and in National Socialist Elite Schools (the Napolas), 1933-1945. Classical Press of Wales.
[5] Vgl. etwa Schmiechen-Ackermann, D. (2012). “Volksgemeinschaft”: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte. Schöningh.
[6] Vgl. z.B. Rosenthal, G. (Hrsg.) (1999). „Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun“. Zur Gegenwärtigkeit des „Dritten Reiches“ in Biographien. Leske + Budrich.