Zwölf Denkfiguren im Spannungsfeld von Wissen und Können
Münster: Waxmann Verlag 2022
(366 S.; ISBN: 978-3-8309-4490-4; 39,90 EUR)
Die Lehrer:innenbildung wurde in den letzten Jahren durch diverse Diskussionen und Adaptierungen geprägt und einigen Reformen unterzogen. Hierbei war auch die Theorie-Praxis-Relation immer wieder Thema. Ein ganzes Buch widmet nun Georg Hans Neuweg dem Verhältnis von Theorie und Praxis und hat hierbei zum Ziel, Orientierung in der Auseinandersetzung mit aktuellen und „historisch bedeutsamen Positionierungen und Diskurslinien“ (5) zu schaffen. Neuweg möchte in seiner Publikation Grundfragen von Wissen und Können nachgehen. Dabei fokussiert er die Art des Wissens, benennt Muster des Wissens bzw. Könnens und überlegt, wie sich der Prozess des Lernens hierbei vollzieht, um Überlegungen für die Gestaltung der Lehrer:innenbildung abzuleiten.
Einführend setzt sich Neuweg mit einer Einteilung von Wissen auseinander. Hier verweist er auf die Unterschiede von Wissen durch Aneignung (Lernen = Wissen 1), Wissen im subjektiven Sinne (Wissen = Wissen 2) und Wissen als Können (Handeln = Wissen 3): Dabei betont er die Vieldeutigkeit des Wissensbegriffs und geht zu Beginn auf lehrer:innenbildungsdidaktische Aspekte ein, um sein Vorgehen und die Unterteilung des Buches zu begründen. Nach der Einführung folgen Teil I und Teil II sowie abschließend eine Synthese.
Teil I beinhaltet sechs Denkfiguren in denen Neuweg betont, dass Wissen und Können miteinander verknüpft sind und sich im ‚Anwenden‘ und ‚Begründen‘ zeigen (‚Integrationstheorem‘). Diesem ‚Integrationstheoretischen Ansatz‘ ordnet er die Denkfiguren (1) Technologie, (2) Brille, (3) Urteilskraft, (4) Training, (5) Induktion und (6) Parallelisierung zu. In diesem integrationstheoretischen Teil von Wissen und Können verweist Neuweg einerseits auf die Trennung der Lernorte Universität und Praxis (1, Technologie), betont aber gleichzeitig die Verschränkung von Theorie und Praxis in der Anwendung, in der Interpretation und Begründung von Situationen (2, Brillen). Daraus erschließt sich für ihn die „Urteilskraft“ (3) als Bindeglied zwischen dem abstrakten theoretischen Wissen und dem (bewussten und professionellen) Handeln in der konkreten Situation. Didaktisches Vorgehen implementiert der Autor ebenfalls, indem er beispielsweise auf die Kasuistik als Methode verweist, bei der diese Urteilskraft geübt werden kann. Weiterhin nennt er als integrationstheoretische Denkfigur auch das „Training“ (4). Hier zeigt er die Bedeutung des Übens auf, durch welches Wissen in Handeln implementiert werden soll. Zusätzlich wird nicht nur versucht, über Theorie Praxis zu begründen. Auch umgekehrt sollen durch Erfahrungen in der Praxis subjektive Theorien in der Lehrer:innenbildung thematisiert werden, um diese mit objektiven Theorien zu konfrontieren (5, Induktion). Einen weiteren Zugang der Implementierung von Wissen und Handeln zeigt Neuweg auf struktureller Ebene. Dabei betont er die notwendig verdichtete maximale Integration von Theorie und Praxis, indem in der Lehrer:innenbildung theoretische hochschulische Phasen und Praxiserfahrungen zeitlich und institutionell aufeinander bezogen werden sollen (6, Parallelisierung). Zusätzlich wird aber auch hier wieder das didaktisch-methodische Vorgehen thematisiert, da Lehrer:innenbildner:innen laut Neuweg ebenso praktisch kompetent vorzeigen sollen, was sie theoretisch wissen, wie theoretisch begründen sollen, wie sie praktisch handeln.
In Teil II geht er auf das ‚Differenzkonzept‘ ein, wobei hier die ‚Könnerschaft‘ nicht durch Wissen begründet wird, sondern vielmehr durch die Persönlichkeit der Lehrperson und deren ‚Erfahrungen‘ in dieser Rolle (‚Differenztheoretischen Ansatz‘). Mittels sechs weiteren Denkfiguren, nämlich (7) Persönlichkeit, (8) Erfahrung, (9) Anreicherung, (10) Reflexion, (11) Interferenz und (12) Konsekution, versucht Neuweg diesen zweiten Strang auszudifferenzieren. In diesem zweiten Abschnitt des Buches mit differenztheoretischen Zugängen zu Wissen und Können steht zuerst die Persönlichkeit im Vordergrund. Es wird darauf verwiesen, dass Persönlichkeitsmerkmale sehr stabil sind und nicht durch Beschulung und theoretisches Wissen kurzfristig verändert werden können. So zeigt sich theoretisches Wissen nicht unbedingt im Handeln, wenn dies nicht der Persönlichkeit der (angehenden) Lehrperson entspricht (7, Persönlichkeit). Außerdem wird auf die Erfahrung (8) als Quelle für ein Ausformen von Könnerschaft verwiesen wie auch auf eine Stufenfolge des Lernens (9, Anreicherung). Durch das Wechselspiel von Handlung sowie reflexiver Bezugnahme auf Handlung wird das Lernen durch Reflexion (10) thematisiert, wobei hingegen in der Denkfigur Interferenz (11) das Handeln und Lernen daraus ohne Reflexion begründet wird. Eine gesamtdifferenzierte Denkfigur stellt die Konsekution (12) dar, in der eine klare institutionelle, funktionale und personale Trennung von Wissen und Handeln forciert wird.
Positiv zu erwähnen ist, dass Neuweg die Formen des Wissens der jeweiligen Denkfiguren auf den Punkt zu bringen versucht, indem passende Praxissituationen beispielhaft aufgezeigt, Aussagen mit Praxis verknüpft, mit verschiedenen Theorien begründet und dabei auch kritisch hinterfragt werden. Zusätzlich soll angemerkt werden, dass der Autor neben der Form von Fachwissen Wissen als verinnerlichte Deutungsschemata bearbeitet. Wissen wird hierbei die Rolle zugesprochen, Wirklichkeit besser zu begreifen, professioneller wahrzunehmen und zu bewerten. Weiterhin bündelt Neuweg in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Denkfiguren Auslegungen und Begrifflichkeiten vieler Autor:innen und verweist dabei auf deren verschiedenen Definitionen und (Be-)Deutungen für das Wissen und Handeln. Dadurch ergibt sich für die Leser:innenschaft ein guter Überblick über verschiedene theoretische Zugänge zu selben Phänomenen.
Ob die verschiedenen Denkfiguren wirklich derart trennscharf den Strängen ‚Integrationsansatz‘ vs. ‚Differenzansatz‘ zugeordnet werden können, wäre in weiteren Ausführungen zu bearbeiten. So verweisen etwa Paseka et al. [1] im EPIK-Modell auf die Bedeutung der Reflexion(sfähigkeit) als Teil professionellen Herangehens, verknüpfen diese aber im selben Atemzug mit Diskursfähigkeit und der Auseinandersetzung mit theoretischen Modellen. Daher könnte beispielsweise die Denkfigur ‚Reflexion‘ im Sinne von Paseka et al. [1] durchaus dem ‚Integrationskonzept‘ und somit der Integration von Wissen und Handeln zugeschrieben werden. Die Denkfigur (8) ‚Erfahrung‘ impliziert ebenso wie die Denkfigur (5) ‚Induktion‘ die Erlebnisse in der Praxis. In der Denkfigur (5) ‚Induktion‘ möchte der Autor verdeutlichen, dass über subjektive Theorien und Erfahrungen objektive Theorien zugänglich gemacht werden können. In der Denkfigur (8) ‚Erfahrung‘ hingegen verweist er darauf, dass derartige Lernprozesse durch „Beschulung kaum wirkungsvoll unterstützt werden können“ (135). Inwieweit die Theorie-Praxis-Relation so unterteilt als different oder integriert betrachtet werden kann, könnte in Frage gestellt werden. Selbst Neuweg führt in diesem Zusammenhang Hascher mit der ‚Erfahrungsfalle‘ an und begründet, dass nicht die Erfahrung selbst, sondern die Reflexion darüber Lernprozesse anregt. Dies wiederum würde den Kreis zur Domäne Reflexion und Diskursfähigkeit für Professionalisierung [1] schließen und für den ‚Integrationsansatz‘ sprechen. Auch bei anderen Denkfiguren scheint die Zuordnung ‚Integrationstheoretischer Ansatz‘ vs. ‚Differenztheoretischer Ansatz‘ hinterfragbar, was der Publikation Neuwegs jedoch nicht kritisch vorzuwerfen ist, sondern vielmehr als Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen dienen soll.
Die Zuordnung sowie die speziellen Foki versucht Neuweg abschließend in einer Synthese zu bündeln, indem zusammenfassend tabellarisch den Denkfiguren die Ausprägungen von Wissen, Denken, Können, Theorie-Praxis-Verhältnis, Lernen und Lernorganisation stichwortartig zugeordnet werden. Dieser gelungene Überblick verdeutlicht die unterschiedlichen Perspektiven und Erklärungsansätze, die im Buch ausführlich dargestellt werden. Zusätzlich verweist der Autor darauf, dass es nicht darum geht, einzelne Denkfiguren für Professionalisierungsprozesse (angehender) Lehrpersonen auszuwählen, sondern diese zu „orchestrieren“ (265). Abschließend forciert Neuweg aber die Denkfigur ‚Konsekution‘ als übergreifenden Rahmen und spricht sich für klare „Leistungsspektren von Theorie und Praxis“ (267) aus, wobei er hier mit der „notwendigen Ungleichzeitigkeit zweier […] unverzichtbarer Kulturen“ (268) argumentiert.
Insgesamt zeigt das Werk von Neuweg eine intensive Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Wissen und Handeln und kann für Lehrer:innenbildner:innen ebenso empfohlen werden wie für Personen, die sich mit verschiedenen Strukturen des Lernens sowie mit den zwei Seiten der Medaille ‚Wissen‘ und ‚Handeln‘ [2] auseinandersetzen wollen. Durch die intensive Bündelung verschiedenster Begrifflichkeiten von Wissen sowie durch die mehrperspektivische Herangehensweise einer Verzahnung und gleichzeitiger Trennung von Wissen und Können wurde Neuwegs Ziel Orientierung zu geben erreicht, er eröffnet damit aber gleichzeitig auch neue Fragen. Neben einer Vielzahl an unterschiedlichen Zugängen zur Theorie-Praxis-Relation in der Lehrer:innenbildung werden in den Darstellungen unterschiedliche Lernzugänge zur Professionalisierung von Lehrpersonen aufgegriffen. Hierbei werden strukturelle Gegebenheiten ebenso hinterfragt und thematisiert wie auch didaktisches Vorgehen von Lehrer:innenbildner:innen.
[1] Paseka, A., Schratz, M. & Schrittesser, I. (2011). Professionstheoretische Grundlagen und thematische Annäherung. In M. Schratz, A. Paseka & I. Schrittesser (Hrsg.), Pädagogische Professionalität: quer denken – umdenken – neu denken. Impulse für next practice im Lehrberuf. Facultas.wuv.
[2] Messner, H. (2007). Vom Wissen zum Handeln – vom Handeln zum Wissen: Zwei Seiten einer Medaille. In: Beiträge zur Lehrerbildung 25 (3), S. 364–376.