Bildungshistorische Analysen und Reflexionen
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(255 S.; ISBN: 978-3-7815-2476-7; 24,90 EUR)
Die Feststellung der Komplexität und Unbestimmtheit des Inklusionsbegriffs begleitet seit Jahren den Diskurs über Inklusion – egal ob in konstruktiv-kritischer oder in ablehnend-vermeidender Intention. Der Inklusionsdiskurs vereint tatsächlich sowohl im historischen Verlauf als auch in der aktuellen Thematisierung unterschiedliche Begriffskonzepte. Der hier besprochene Sammelband macht diese diskursive Realität im Sinne eines historischen Metadiskurses zu seinem Anliegen. Die Herausgeber*innen eröffnen ihn mit der Frage: „Wie erzählt man die Geschichte eines Un-Dings?“ (9).
Zunächst wird der Inklusionsbegriff, bezugnehmend auf Ernesto Laclau, in ein Verständnis von Diskurs als Ensemble von Bedeutungssequenzen zur Strukturierung sozial-kultureller Praktiken eingeordnet. Inklusion gilt demnach als ‚leerer Signifikant‘ und nicht als eigener, klar umrissener Begriff. Inklusion wird zur bedeutsamen Chiffre für andere, mit ihr assoziierte und teilweise synonym verwendete begriffliche Konzepte – wie etwa Teilhabe, soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte. Diese Begriffe betonen unterschiedliche Facetten und Bedeutungsgehalte von Inklusion, die sowohl Schnittmengen aufweisen als auch auf Abgrenzungen und Widersprüche verweisen können. Inklusion kann nach diesem Verständnis also als Chiffre gelesen werden, die sich einerseits unumgehbar, andererseits aber auch unbestimmt darstellt und im hegemonialen Diskurs um Deutungshoheiten inhaltlich immer wieder neu gefüllt und definiert wird. Es ist daher nicht das Anliegen des Buches, dem Inklusionsdiskurs eine weitere Lesart hinzuzufügen. Vielmehr gilt es, ihm im (historischen) Verlauf mit dem Ziel einer Reorganisation und Re-Inventarisierung verschiedener Facetten nachzuspüren. Da retrospektiv vorgenommene Dechiffrierungen selbst im Diskurs wieder dechiffrierbar sind und keine strikte Trennung zwischen einer Diskursanalyse und einer Diskursbeteiligung ermöglichen, sehen die Herausgeber*innen den vorliegenden Band als Beitrag zu einem kontinuierlichen Prozess von Re-Chiffrierungen.
Der Band versammelt Tagungsbeiträge der gleichnamigen Tagung der DGfE-Sektion Historische Bildungsforschung aus dem Jahr 2019 und teilt sich in folgende Unterkapitel: Theorie der Disziplingeschichte, Geschichte inklusiver Bewegungen, Begriffs- und Wissensgeschichte, Inklusionsbegriffe und -verständnisse ausgewählter Pädagogiken sowie Re-Kategorisierungen und Differenzordnungen. Eine Perspektive kritischer Bezugnahme auf das hegemoniale Narrativ von Inklusion als lineare Fortschrittsgeschichte eint die unterschiedlichen Beiträge.
Die Beiträge zur ‚Theorie der Disziplingeschichte‘ zeichnen theoretische Zugangsweisen zu Fragen der Heterogenität, Ungleichheit und Nicht/Teilhabe in pädagogischen Kontexten nach. Als zentral erweist sich dabei der Einfluss dichotomer Vorstellungen von Nicht/Behinderung für Exklusionsstrukturen und -prozesse im Bildungssystem wie auch in der Bildungstheorie. Gleichermaßen wird aber auch die enge Kopplung der Integrationsidee an die Vorstellung einer Demokratisierung der Gesellschaft evident. Der Sammelband beginnt also mit der Bearbeitung grundlegender Spannungsverhältnisse inklusiver Diskurse. Vera Moser ordnet in diesem Sinne die Deutsche Bildungsratsempfehlung „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ aus dem Jahr 1973 bildungspolitisch in die demokratische Reformstimmung der 1970er Jahre ein. Nachfolgend analysieren Bettina Lindmeier und Mia Lücke auf bildungstheoretischer Ebene unterschiedliche adressat*innenspezifische Veränderungen des Konzepts der Bildsamkeit in ihrer Bedeutung für Inklusions- und Exklusionsprozesse. Der Beitrag problematisiert das bildungstheoretische Spannungsfeld zwischen universalem Bildungsanspruch und individualisierten Bildungspraktiken am Beispiel der dramatischen Folgen der jüngsten Zuschreibung von Bildungsunfähigkeit im Nationalsozialismus. In übergeordneter Perspektive thematisiert Andreas Kuhn die grundsätzliche Problematik der disziplinären Konstruktionen von Teilhabe und Ausschluss in pädagogischen Diskursen und zeigt auf, dass und wie (binnen)disziplinäre Grenzen überhaupt erst über die Identifikation und Bearbeitung von Gegenstandsbereichen als nicht/pädagogische Fragestellungeng hergestellt werden.
Das Kapitel ‚Geschichte inklusiver Bewegungen‘ vereint in eher lockerem Zusammenhang ein inhaltlich und methodisch breites Spektrum verschiedener Aspekte der Historie sozialer, teilhabeorientierter Bewegungen. Zunächst thematisieren zwei Beiträge das im internationalen Vergleich frühe und konsequente Vorgehen Italiens, wo bereits 1977 per Gesetz der allgemeine Schulbesuch aller Kinder und die Schließung der Sonderschulen geregelt wurde. Simonetta Polenghi zeichnet diese „[i]talienischen Wege zur Inklusion“ (63) vor dem Hintergrund eines antifaschistischen gesellschaftlichen Reformklimas der späten 1970er Jahre nach. Eugenio Riversi analysiert italienische Fachtexte der 1970er Jahre in einer theoretischen Perspektive von Inklusion als Dispositiv (Foucault) im Kontext gesellschaftspolitischer Ziele. Mit der Thematisierung von Dis/Ability in medienarchäologischer Perspektive eröffnet Jan Müggeburg eine Betrachtungsweise auf aktuelle alltagsrelevante Konstruktionen von Teilhabe- und Exklusionsprozessen. Schließlich spüren Edith Glaser, Friederike Thole und Sarah Wedde der Nicht/Thematisierung inklusiver Bildung in der Bildungsreform der frühen Bundesrepublik nach und identifizieren bedeutende Parallelen und Vorläufer in den Diskussionen um Bildungsgerechtigkeit innerhalb der Gesamtschuldebatte.
‚Begriffs- und Wissensgeschichte‘ fasst vier Beiträge zusammen, die jeweils Bedeutungsverschiebungen des Inklusionsbegriffs im Sinne von Reflexion und Dechiffrierung in unterschiedlichen pädagogischen Feldern und Zeitschienen bearbeiten. Zunächst analysiert Patrick Bühler Bedeutungsverschiebungen des Integrations-Begriffs in der Schweizerischen Lehrerzeitung zwischen 1954 und 1994. Rebekka Horlacher identifiziert in der Auseinandersetzung mit frühen Ansätzen der Taubstummenerziehung bei Hans Konrad Näf, einem zeitweisen Weggefährten Pestalozzis, die Frage von Inklusion als Ziel oder als Prozess. Der Beitrag von Andrea De Vincenti, Norbert Grube und Andreas Hoffmann-Ocon untersucht am Beispiel des Züricher Heilpädagogen Heinrich Hanselmann dessen volkspädagogisierende Ambitionen, insbesondere mit Blick auf ein paradox gespeistes Konzept von Gemeinschaft. Abschließend nimmt Philipp Eigenmann Begriffsalternativen zum Integrationsbegriff im pädagogischen Umgang mit Migrationsfragen in der Schweiz im Zeitraum von 1960 bis 1980 in den Blick.
Die Beiträge im Kapitel ‚Inklusionsbegriffe und -verständnisse ausgewählter Pädagogiken‘ zeigen diese an ausgewählten Figuren, Formen oder Institutionen oder beziehen sich auf Werke, denen im Inklusionsdiskurs eine zentrale Stellung zugesprochen wird. Die Beiträge hängen eher lose zusammen. Den Auftakt macht Christian Stöger, indem er das hinsichtlich seiner exkludierenden und inkludierenden Anteile konkurrierend gedeutete Levana Projekt (1856-1865) anhand von Quellentexten neu auswertet. Sebastian Engelmann bearbeitet das Verhältnis von Normalisierung, Empowerment und Dekonstruktion in der sozialistischen Reformpädagogik Minna Spechts in der Perspektive der trilemmatischen Inklusionstheorie (Boger). Daniel Deplazes geht schließlich dem Integrationsverständnis der Heimerziehung am Beispiel des heilpädagogisch ausgerichteten Züricher Landerziehungsheims Alisbrunn und vor dem Hintergrund der Heimkritik der 1970er Jahre nach.
‚Re-/Kategorisierungen und Differenzordnungen‘ versammelt Beiträge zu retrospektiven Rekonstruktionen diskursiver Konstruktionsleistungen von Differenz und Andersheit in relevanten gesellschaftlichen und pädagogischen Diskursen einschließlich ihrer exkludierenden Effekte. Joachim Scholz, Denise Löwe, Kerrin von Engelhardt und Sabine Reh arbeiten für höhere Schulen im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik den Stellenwert von Normierungspraktiken und Ausschlussdrohung in der Bearbeitung von Nicht/Zugehörigkeit heraus. Elke Kleinau thematisiert Einschluss- und Ausschlussprozesse von „schwarzen deutschen Besatzungskindern“ (218) in der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit Blick auf Schule und Berufseinstieg und identifiziert Einflüsse rassedifferenten Denkens und traditioneller Deutungsmuster von Unehelichkeit. Mit Kategorisierungsprozessen im Aufnahmeverfahren niederländischer Sonderschulen für Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zwischen 1949 und 1990 beschäftigt sich Nelleke Bakker und zeigt auf, wie Professionen inhaltliche und prestigebezogene Gewinne durch schulische Feldzugänge erwerben. Michaela Vogt und Agneta Floth verdeutlichen anhand schulischer Überprüfungsverfahren in der DDR, dass und wie die Verständigung über scheinbar kindbezogene Probleme damals und heute auch als Chiffre für die Verdeckung von Blind- und Fehlstellen im Schul- und Bildungssystem gelesen werden kann.
Insgesamt vermögen die Beiträge verständlicherweise nicht alle gleichermaßen dem Anspruch des Sammelbandes gerecht zu werden. Sie bilden auch in ihrer aktuellen diskursiven Relevanz unterschiedliche Anschlussfähigkeiten – einige Beiträge bearbeiten zentrale Schlüsselaspekte, andere liefern weitere Beispiele und Konkretisierungen für aktuell eher (ab)geschlossene Diskursstränge (wie die nach Inklusion als Ziel oder als Prozess). In der Gesamtschau erweist sich das vorgestellte Diskursverständnis als tragfähige theoretische Klammer, um eine Vielzahl von Perspektiven im Inklusionsdiskurs gewinnbringend im Sinne eines Metadiskurses zu verbinden.