Ullrich Bauer / Klaus Hurrelmann

Einführung in die Sozialisationstheorie

Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung
Weinheim/Basel: Beltz 2021
(350 S.; ISBN: 978-3-407-25885-4; 29,95 EUR)

Mit der 14. Auflage dieses seit 1986 erscheinenden Lern- und Studienbuches liegt eine völlig überarbeitete, maßgeblich von Bauer gestaltete Fassung vor, die „eine systematische Aktualisierung des Forschungsstandes und die Neufassung der Kernannahmen des ‚Modells der produktiven Realitätsverarbeitung‘“ (8) verspricht.

Sozialisation ist ein schillernder, vor 150 Jahren in die Sozialwissenschaften eingeführter Begriff, der sich auf das Verhältnis zwischen Person und Umwelt bezieht und damit immer beide Perspektiven enthält, was eine interdisziplinäre Theoriebasis erfordert. In der Einführung grenzen die Autoren den Begriff von anderen wie Bildung, Erziehung, Reifung, Enkulturation/Akkulturation ab, die sie eher als Teilbereiche der Sozialisation betrachten.

Der zweite Teil umfasst die soziologische und psychologische Propädeutik, d. h. das Grundlagenwissen der Sozialisation. Die Autoren gestehen diesen Basistheorien eine Sonderstellung zu – auch wenn „die neueren Ansätze nicht mehr so strikt disziplinär einteilbar sind“ (42) –, weil sie von zwei sehr unterschiedlichen Standpunkten das Thema Sozialisation betrachten und unterschiedliche Antworten auf die zwei zentralen Leitfragen geben: „Wie schafft es eine Gesellschaft, die in ihr lebenden Menschen zu sozialen Wesen zu machen, die sich in die sozialen Strukturen integrieren?“ Und: „Wie gelingt es Menschen, sich trotz ihrer gesellschaftlichen Einbindung Freiheiten für die eigene persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung zu erschließen und somit zu autonomen Individuen zu werden?“ (42) Zu den frühen soziologischen Ansätzen referieren die Autoren die Theorien von Simmel und Durkheim, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie unter Bedingungen zunehmender Arbeitsteilung ab der Mitte des 19. Jh. der gesellschaftliche Zusammenhalt gewahrt werden kann. Beide sahen in der Sozialisation, (damals noch) verstanden als Internalisierung des Sozialen durch Erziehung, ein wichtiges Moment für das Funktionieren komplexer Gesellschaften. In einem zweiten Strang werden gesellschaftstheoretische Ansätze verortet, die, durchaus heterogen, soziale Makrostrukturen und Herrschaftsverhältnisse sowie deren Auswirkungen auf Menschen analysieren (Marx, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Parsons, Luhmann, Bourdieu). Dem dritten Strang sind handlungstheoretische Ansätze zugeordnet, die mikrologisch-interaktionistisch ausgerichtet sind (Mead, Habermas, Berger/Luckmann, Oevermann, Krappmann) und „in der menschlichen Handlung selbst und in der Interaktion von Menschen das wegweisende Prinzip zum Verständnis sozialer Realität“ (69) sehen.

Als zweiter propädeutischer Baustein werden die psychologischen Theorien der Sozialisation vorgestellt, die von der Perspektive des Individuums ausgehen. Schon die frühen Ansätze weisen mit psychologischen Persönlichkeitstheorien (Freud) sowie Lern- und Entwicklungstheorien (Bateson) zwei sehr unterschiedliche Denkansätze auf, deren Weiterentwicklungen differenziert erläutert werden. Was die psychologischen Theorien zu Sozialisationstheorien macht, wird durch soziologische und psychosoziale Weiterentwicklungen der Psychoanalyse (Marcuse, Lorenzer, Erikson) expliziert. Die Bedeutung der Lern- und Entwicklungstheorien wird anhand der Forschungen von Piaget, Kohlberg, Bandura, Lerner und Bronfenbrenner herausgearbeitet.

Nachdem die Autoren noch einmal den Paradigmenwechsel der Sozialisationsforschung von der Struktur- zur Subjektzentrierung nachgezeichnet und kritisch gewürdigt haben, stellen sie im dritten Teil die zehn Prinzipien des Modells der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR) vor. Sie bezeichnen das MpR als eine metatheoretische, über den Einzeltheorien angesiedelte erkenntnisleitende Vorstellung. Die beiden ersten Prinzipien betreffen erkenntnistheoretische und konzeptionelle Grundannahmen (Interaktionen zwischen innerer und äußerer Realität; Menschen als Produzent:innen ihrer eigenen Entwicklung), zu denen die bereits vorgestellten Theorien um neuere Forschungserkenntnisse der Psychologie und einer Soziologie der Kindheit und Jugend ergänzt und solche aus naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Genetik und den Bio- bzw. Neurowissenschaften neu eingeführt werden.

Die Prinzipien 3-5 beziehen sich auf die produktive Realitätsverarbeitung im Lebenslauf, wobei die strukturbedingten Veränderungen im Zeitraum von 1900-2000 skizziert werden. Prinzip 3 basiert auf dem Konzept der Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf. Im Prinzip 4 werden unter dem Begriff der Ich-Identität Spannungen zwischen den spezifischen Anforderungen der inneren und äußeren Realität u. a. anhand von Stress- und Bewältigungstheorien, dem Konzept der kritischen Lebensereignisse und salutogenetischen Ansätzen vorgestellt. Prinzip 5 ist dem 3. ähnlich, indem es auf die Anforderungen und den Wandel der einzelnen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Seniorenalter) fokussiert und die Verbindungen zwischen äußerer und innerer Realität alters- wie auch kontextspezifisch herausarbeitet.

Die Prinzipien 6-9 konzentrieren sich auf Kontexte der Sozialisation, d. h. „soziale, symbolische, materielle und immaterielle Räume […], in denen Menschen agieren“ (212). Ausführlich beschrieben werden die Familie als primärer Sozialisationskontext (Prinzip 6), die Bildungsinstitutionen als sekundäre (Prinzip 7) und die alltägliche Lebenswelt (Prinzip 8: Partnerschaften, Freundes- und Bekanntenkreis, Medien, berufliche Erwerbsarbeit, Konsum- und Freizeitsektor, religiöse Praktiken, politisches, soziales u. a. Engagement) als tertiäre Sozialisationsinstanzen. Die differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Kontexten basiert v. a. auf empirischen Studien und Statistiken zur Situation in Deutschland mit vereinzelten Vergleichen zu anderen, ähnlich entwickelten nordeuropäischen Gesellschaften.

Das 9. Prinzip thematisiert unter dem Begriff der Intersektionalität (Überschneidungen von unterschiedlichen Benachteiligungs- und Diskriminierungsformen) den Einfluss von ungleichen Lebensbedingungen auf die Ausprägung der Persönlichkeit. Damit erweitern die Autoren den Blick auf die Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheiten in Abgrenzung zur traditionellen, eher eindimensional schichtspezifischen Sozialisationsforschung. Abschließend werden Fördermöglichkeiten vorgestellt, um die – im internationalen Vergleich – in Deutschland besonders schwach ausgebildeten und Ungleichheit festschreibenden Chancenstrukturen des Bildungssystems zu verbessern.

Das 10., dieser Auflage neu hinzugefügte Prinzip stellt aktuelle Herausforderungen der Sozialisation im Sinne von Krisenbearbeitung unter globalisierten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zur Diskussion.

Die Studie schließt mit Reflexionen zur Weiterentwicklung und Aktualisierung des MpR sowie darüber, wie Erkenntnisse über Sozialisation gesammelt und so aufbereitet werden können, dass sie in die Politikberatung hineinwirken.

Die Stärke der Studie liegt in der Fülle der chronologisch und fachdisziplinär vorgestellten Theorien, deren wesentliche Inhalte und Bedeutung für das dialektische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft gut verständlich herauskristallisiert werden. Die Hinweise auf Weiterentwicklungen älterer bzw. die Rückverweise bei neueren Theorien auf ihre Traditionslinien vermitteln dabei mehr als nur eine Aneinanderreihung von Theorien. Des Weiteren werden neuere Forschungsbefunde aus Wissenschaftsbereichen außerhalb der Soziologie und Psychologie diskutiert und auf ihre Relevanz für Sozialisation hin überprüft. Auch die sorgfältige Definition fast aller verwendeten Begriffe trägt dazu bei, dass die Leser:innen kompetent durch die theoretische Komplexität geleitet werden.

Die zweifelsfrei hohe inhaltliche Qualität der Studie und ihr Nutzen als Lehr- und Studienbuch legen es nahe, bei der nächsten Auflage auch der formalen Qualität mehr Beachtung zu schenken, ethnozentrisch konnotierte Begriffe wie hochentwickelte Gesellschaften (menschlich? technisch? kulturell? ökonomisch?) wegzulassen und Deutschland nicht nur als Dienstleistungs- sondern auch als Industrie- und Agrargesellschaft zu betrachten.

Zur Zitierweise der Rezension
Renate Nestvogel (Berlin): Rezension von: Ullrich Bauer / Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. Weinheim/Basel: Beltz 2021 (350 S.; ISBN: 978-3-407-25885-4; 29,95 EUR). In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 11. November 2022), URL: https://ewrevue.de/2022/11/einfuehrung-in-die-sozialisationstheorie/