Florian Heßdörfer

Der Geist der Potentiale

Zur Genealogie der Begabung als pädagogisches Leistungsmotiv
Bielefeld: transcript Verlag 2022
(239 S.; ISBN: 978-3-8376-6051-7; 35,00 EUR)

Kaum eine Periode der Erziehungs- und Bildungsgeschichte ist in der historischen Bildungsforschung intensiver erforscht als das Kaiserreich und die Weimarer Republik. Hochindustrialisierung, Imperialismus, Krieg und Republik haben Politik und Gesellschaft in einer beispiellosen Dynamik herausgefordert, transformiert und signifikante Spuren auch in der Praxis und Reflexion von Bildung und Erziehung hinterlassen. Vor diesem Hintergrund waren „Reformpädagogik“, „Schulreform“ und „wissenschaftliche Pädagogik“ am Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach Gegenstände theorie- und sozialgeschichtlicher Forschung, die das spezifische Profil von Erziehungsreflexion und -reform in Deutschland über ihre ideengeschichtliche Tradition hinaus gerade aus ihren Wechselbeziehungen mit dem krisenhaften sozialen und kulturellen Modernisierungsprozess zu erklären versuchten [1].

Mit einem dazu deutlich kontrastierenden, diskursimmanent fokussierten Zugang zur „Genealogie der Begabung“ untersucht der Verfasser des vorliegenden Bandes angesichts der um 1900 einsetzenden Konjunktur des Begabungsbegriffs, wie sich „die pädagogische Konstellation“ verändert, „wenn ihre Orientierung weniger durch übergeordnete Ideale als durch vorgeordnete Potentiale“ im Sinne von Anlage, Begabung und Talent erfolgt (15). Vier der fünf Kapitel des Bandes basieren auf Beiträgen, die zwischen 2015 und 2019 in Konferenzsammelbänden bzw. Periodika erschienen und im Rahmen eines kumulativen Habilitationsverfahrens überarbeitet und erweitert worden sind (217). Ihnen ist ein längeres „vorgreifendes Resümee“ (17-76) zu den „fünf (…) tragenden Elemente(n)“ (23) des Geistes der Potentiale vorangestellt: (i) „Pädagogische Technologien“ im Sinne pädagogisch-psychologischer Prüfungstechniken, die (ii) „Subjektivierung der Potentiale“ durch die pädagogische Vermittlung eines „Selbstdeutungsrepertoires“ (45) im Rahmen von Anlage, Begabung und Talent, (iii) „Ökonomische Motive“ zum Zusammenhang zwischen Potentialen und „ökonomisch-unternehmerischen Motiven“, (iv) „Pädagogische Strategien“, die der vermeintlich freien Entfaltung durch Beraten und Spielen dienen, sowie (v) „Gleichheitsmotive und Vergleichslogiken“, die das „Dilemma“ zwischen pädagogischem Individualitätsdenken und Vergleichstechniken thematisieren (23/24).

Die nachfolgenden, zum größten Teil aus den vorherigen Publikationen hervorgegangenen Kapitel konkretisieren diese Elemente sodann anhand der spezifischen Konzepte bzw. Reflexionsformen mehr oder weniger prominenter Vertreter:innen der (Reform-)Pädagogik bzw. der zeitgenössischen Psychologie: Ellen Key über „die Arbeit der Mütter“, Theodor Litt zum Zusammenhang von Ökonomie und Anlagen, der Dresdener Stadtschulrat Wilhelm Hartnacke zur rassebiologischen Auslese sowie Hermann Ebbinghaus und Hugo Münsterberg als Vertreter der frühen Psychologie über Quantifizierung bzw. Beratung. „Spielerische Potentiale: Arbeit als Spiel“ zeichnet schließlich die verschwindenden Grenzen zwischen beiden Bereichen auf und warnt, dass die „Logik des Profits das Spiel erfasst, die Arbeit über die Form des Lebens entscheidet“ (194). In einer Art Ausblick wird der Begriff der „Kompetenz als zeitgenössische Variation des Geistes der Potentiale“ (210) eingeordnet.

Die Untersuchung charakterisiert – ganz im Sinne ihrer Absicht, „Begriffe zu erarbeiten“ (16) – eine fortlaufende Relationierung historischer Konzepte und Begriffe im Umfeld von Anlage und Begabung, oft integriert in Paraphrasen der jeweils herangezogenen Literatur, entfaltet Differenzierungen immer wieder anhand der Denkfigur der Doppelung – so die „doppelte Fundierung“ (13) der Pädagogik und die „doppelte Konstruktion der Begabung“ (39) oder der „doppelte Verpflichtungscharakter der Arbeit“ (108) und Litts “Zugang als doppelt modern“ (116) – und entwickelt Komplexität über die ebenfalls häufig wiederkehrenden Kontraste von „innen“ und „außen“, „hell“ und „dunkel“ als unterschiedliche Seiten der in Rede stehenden Begriffe. Damit werden die erziehungstheoretisch und -historisch interessierten Leser:innen in einen konzentrierten Reflexionsprozess über die verschiedenen Bedeutungsschichten von Begabung einbezogen, dessen genauer Ertrag nur schwer in kompakten (Zwischen-)Ergebnissen aufzusummieren ist. Vertiefend werden klassische (z.B. Kant, Marx) wie moderne Theorien (v.a. Foucault) diskutiert, ebenso, etwa mit Norbert Rickens Arbeiten, Anschlüsse an den einschlägigen aktuellen Diskurs der Allgemeinen Pädagogik gesucht.
Gegenüber dieser bezugsreichen Einbettung in benachbarte gesellschafts- und erziehungstheoretische Ansätze hat die Arbeit deutliche Schwächen auf der Ebene der Quellenauswahl und -kritik. So fehlen angesichts des enormen Aufschwungs der im ausgehenden 19. Jahrhundert immer heterogeneren pädagogischen (Zeitschriften-)Literatur Kriterien sowohl für die Auswahl der herangezogenen Periodika wie auch der einzelnen Beiträge, deren Umfang von oft nur drei, vier Seiten Fragen nach ihrem Gewicht bzw. ihrer Repräsentativität im zeitgenössischen Diskurs aufkommen lässt. Zahlreiche, im Text zitierte Literaturangaben sind nicht im Literaturverzeichnis nachgewiesen.

Da der „szientifische Flügel“ der Reformpädagogik [2], die „experimentelle Pädagogik“, in ihrer konflikt- und daher für die historische Semantik von Begabung zugleich sehr aufschlussreichen Entstehung und späteren Marginalisierung ausgeblendet bleibt, wird auch die zeitgenössische Begabungsforschung ignoriert. Ernst Meumann widmete ihr schon in der zweiten Auflage seiner bekannten „Vorlesungen zur Einführung in die Experimentelle Pädagogik“ von 1913 einen eigenen, 800 Seiten umfassenden Band, der die internationale Forschung seiner Zeit auf einzigartige Weise kompiliert und kommentiert. Sporadische Hinweise auf William Stern und Peter Petersen verfehlen die enorme Bedeutung des Aufstiegs und der Dominanz der empirischen Pädagogik bzw. Begabungsforschung vor 1914 und übergehen zugleich deren Reduktion auf die (dann kaum akzeptierte) Begabungsdiagnostik sowie die international atypische Marginalisierung der empirischen Pädagogik nach 1918 [3]. Dementsprechend kommen Eduard Spranger und die in den 1920er Jahren als Alternativkonzept entstandene „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“ gerade mit Blick auf die ‚wissenschaftliche‘ Neubegründung von Bildung, Begabung, Allgemein- und Berufsbildung in der Weimarer Republik zu kurz.

Diskurse entwickeln sich nicht im luftleeren Raum und folgen insoweit einer anderen Logik als sie aus der mehr zufällig als systematisch nachvollziehbar erscheinenden Aneinanderreihung bzw. Kompilation historischer Texte hervorzugehen scheint. Die Fokussierung der Wechselwirkungen zwischen Begabungsdiskurs und Bildungssystem als dessen zentraler institutioneller Referenz, die den Diskurs weit mehr bestimmen als die Optimierung des vom Autor wiederholt exponierten „Einzelnen“, ist keine nur äußerliche methodische Option der historischen Bildungsforschung. Vielmehr werden die Beziehungen zwischen Schulsystem und Begabung in prominenten zeitgenössischen Quellen selbst explizit und kontinuierlich diskutiert – mit am Ende weitreichenden Folgen für Programm und wissenschaftliche Verortung der Erziehungswissenschaft in Deutschland, nicht zuletzt für die Legitimation und damit Stabilisierung der selektiven Strukturen des dreigliedrigen Schulsystems durch die noch weit nach 1945 dominierende Begabungsideologie. Die selektiven Effekte des Begabungsbegriffs überlagern historisch seine subjektive Orientierungsfunktion als individuell gestaltbares Potential.

[1] Tenorth, H.-E. (2013). Erziehungswissenschaft – Kontext und Akteur reformpädagogischer Bewegungen. In W. Keim & U. Schwerdt (Hrsg.), Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland. Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Bd. 1 (S. 293-326). Peter Lang Edition.
[2] Tenorth, H.-E. (1989). Versäumte Chancen. Zur Rezeption und Gestalt der empirischen Erziehungswissenschaft der Jahrhundertwende. In P. Zedler & E. König (Hrsg.), Rekonstruktionen pädagogischer Wissenschaftsgeschichte. Fallstudien, Ansätze, Perspektiven (S. 317-343). Dt. Studien-Verl.
[3] Depaepe, M. (1993). Zum Wohle des Kindes? Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA, 1890-1940. Dt. Studien-Verl.
[4] Drewek, P. (2021). Geschichte der Schulforschung im deutschsprachigen Raum bis zum Zweiten Weltkrieg. In T. Hascher, W. Helsper & T.-S. Idel (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 1-22). Springer Fachmedien Wiesbaden.

Zur Zitierweise der Rezension
Peter Drewek ( Karlsruhe): Rezension von: Florian Heßdörfer: Der Geist der Potentiale. Zur Genealogie der Begabung als pädagogisches Leistungsmotiv. Bielefeld: transcript Verlag 2022 (239 S.; ISBN: 978-3-8376-6051-7; 35,00 EUR). In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am: 11. November 2022), URL: https://ewrevue.de/2022/11/der-geist-der-potentiale/