Carla Schelle/ Bettina Fritzsche/ Roswitha Lehmann-Rommel

Falldarstellungen für eine komparative, praxeologische Seminararbeit

Unterrichtssituationen aus Deutschland, Frankreich, Senegal und England
Münster, New York: Waxmann 2021
(164 S.; ISBN: 978-3-8309-4369-3; 19,90 EUR)

Fallarbeit bzw. Kasuistik bewegt sich in einem Wechselspiel von Allgemeinem und Besonderem, von fall- oder situationsübergreifenden und situations- oder fallspezifischen Logiken und Strukturen. Für den vorliegenden Band und sein Anliegen, Fälle für eine komparative, kulturvergleichende Fallarbeit zu dokumentieren, gilt dies in besonderer Weise. Denn anders als in den meisten kasuistischen Formaten, in denen die nationalstaatlich konturierte Schule in Deutschland das Allgemeine repräsentiert (9), werden hier auch Fälle aus dem französischen, senegalesischen und englischen Unterricht dargestellt, womit sich das, was in Unterrichtsfällen das Allgemeine und das Besondere repräsentiert, neu abstecken lässt.

In diesem Sinne stellt das erste Kapitel der Monographie zunächst Merkmale der modernen Schule allgemein dar, um im Anschluss daran zentrale Merkmale der vier genannten Schulsysteme zu skizzieren. Auch ganz unabhängig vom kasuistischen Anliegen erhält man hier einen sehr gut lesbaren Überblick über das Schulwesen der vier Länder, der sowohl allgemeine, abstrakte Merkmale als auch zahlreiche interessante Detailaspekte beispielsweise zur historischen Entwicklung, zu Schulstufen und -typen, zum Prüfungswesen, zu Inklusion, zum Status von Lehrpersonen u. v. m. eröffnet. Aufschlussreich hätte es sein können, in diesem oder dem folgenden Kapitel die durch die Forschungsprojekte der beteiligten Autorinnen bedingte Auswahl (9) gerade dieser vier Länder genauer zu reflektieren – gibt es etwa zwischen diesen Systemen derartige Gemeinsamkeiten, dass die Auswahl dieser vier Länder im Spektrum der modernen Schule in bestimmten Aspekten einseitig ist?

Im zweiten Kapitel werden Anliegen und Vorgehen der vorgeschlagenen Fallarbeit geklärt. Dabei wird ein großer Bogen von den Grundlagen qualitativer bzw. rekonstruktiver Sozialforschung bis hin zu den konkreten Prinzipien der hier umrissenen Fallarbeit in der Lehre gespannt; auch auf den Zusammenhang von Fallarbeit und Professionalisierung wird eingegangen. Die knappe Darstellung führt dazu, dass Einsteiger*innen in rekonstruktiver Fallarbeit sicher nicht alle Details ohne Weiteres nachvollziehen können; andere können das Kapitel als gut pointierte Zusammenfassung oder Wiederholung nutzen.

Dies verweist allgemeiner auf den v. a. für das zweite und dritte Kapitel festzustellenden Doppelcharakter des Bandes. Er ist einerseits eine ‚bloße‘ Fallsammlung und bietet andererseits eine Darstellung des diese Fälle rahmenden (methodischen wie fachlichen) Wissens, das für die Arbeit mit diesen Fällen in der Lehre (10) hilfreich ist. Dieses Wissen wird jedoch mitunter recht dicht dargestellt, sodass es teilweise abstrakt bleibt und im Seminar sicher durch weitere Erläuterungen oder weitere Materialien vertieft werden muss. Je nach Vorkenntnissen und Interessenslage muss dies jedoch kein Nachteil sein.

Insgesamt wird in diesem zweiten Kapitel das Programm einer praxeologischen, adressierungsanalytischen, komparativen und rekonstruktiven Fallarbeit entfaltet, die dabei den Prinzipien der Sequentialität und Wörtlichkeit folgt und ferner auf die Rekonstruktion impliziten Wissens zielt. Mit Blick auf die verschiedenen Methoden, die hier miteinander in Verbindung gebracht werden, wäre eine Diskussion darüber, inwiefern solche Verknüpfungen möglich sind oder welche Grenzen dabei in Folge der verschiedenen methodologischen Grundannahmen bestehen, sinnvoll gewesen.

Am Begriff der Nostrifizierung (52) wird der besondere Wert einer international vergleichenden Fallarbeit einmal mehr sehr gut deutlich, insofern Subsumtion (hier in Bezug auf ‚eigene‘ kulturelle Schemata) noch stärker als in anderen kasuistischen Formaten herausgefordert bzw. eine Sensibilisierung gegenüber „vorschnelle[n] Zuschreibungen und Kulturalisierungen“ (10) intensiviert wird.

Schwerpunkt der Monographie bildet das dritte Kapitel, in dem geordnet nach vier Themenbereichen – Unterrichtsbeginn, Disziplin und Autorität, Fachlichkeit und Unterrichtsgegenstände sowie Leistungsbewertung – eine ganze Reihe von Fällen aus den vier Ländern dokumentiert ist. Alle Fälle werden verschlagwortet, mit Kontextinformationen und ggf. Übersetzungen versehen sowie mit Fragen verbunden, auf die sich die Fallarbeit beziehen kann.

Die Fragen ergeben sich sowohl aus der (methodischen und methodologischen) Grundanlage der Fallarbeit als auch aus den konkreten Themenbereichen (56); dementsprechend bietet das Buch Fragen bzw. Analyseschwerpunkte, die für alle Fälle, für die Fälle eines Themenbereichs oder für einzelne Fälle gelten. Die Fragen sind in den meisten Fällen sehr gut nachvollziehbar und auf die entsprechenden Fälle abgestimmt; sie lenken den Fokus gewinnbringend auf bestimmte fallspezifische oder fallkontrastive Aspekte. Lediglich einzelne Fragen, die auf Motive der Akteur*innen zielen (141) oder zum Aufstellen von Hypothesen auffordern (94, 98), erscheinen zumindest diskutabel, da sie dem Anspruch einer rekonstruktiven Kasuistik zuwiderzulaufen scheinen (57).

Aus dem Doppelcharakter des Buches ergibt sich wiederum, dass die Einführungen zu den vier Themenbereichen recht dicht sind und man mit den vorgeschlagenen Fragen je nach Vorwissen nicht ohne Weiteres wird arbeiten können. Hier wäre es hilfreich gewesen, je einen Fall jedes Themenbereichs ausführlich zu interpretieren, sodass mit den Fällen arbeitende Kasuistik-Einsteiger*innen eine konkretere exemplarische Vorstellung erhalten, wie die Fallarbeit verläuft und welche Erträge die Fragen bieten – dies liegt möglicherweise jedoch jenseits der Intention des „Fallbuch[s]“ (9).

Die Fälle, die nicht aus dem Unterricht in Deutschland stammen, sind nicht nur inhaltlich im Vergleich zu Deutschland interessant, sondern auch sprachlich. Dabei lässt sich die von den Autorinnen im zweiten Kapitel (60-62) angesprochene Spezifik und auch Schwierigkeit einer Fallarbeit mit fremdsprachlich dokumentierten Fällen sehr gut nachvollziehen. Man kann sich daher der Empfehlung der Autorinnen anschließen, fremdsprachlich dokumentierte Fälle möglichst mit Muttersprachler*innen gemeinsamen zu interpretieren (62).

Daraus folgt, dass eine komparative, kulturvergleichende Fallarbeit zwar die ohnehin hohen Anforderungen rekonstruktiver Kasuistik weiter erhöhen dürfte, zugleich aber ein zusätzliches Potenzial für das Verständnis von Schule, Unterricht und Lehrer*innenhandeln bietet, beispielsweise zur Kulturspezifik von Wissen (124, 128). Jenseits der vier konkreten Themenbereiche ist es etwa höchst aufschlussreich – und wahrscheinlich beruhigend wie beunruhigend zugleich –, dass das IRE-Schema, das sogenannte Lehrerecho oder die ‚Hebammenkunst‘ des fragend-entwickelnden Unterrichts kein Proprium des Schulunterrichts in Deutschland darstellen. Dies und zahlreiche andere in der Komparation liegende Erkenntnisse zu gewinnen, ermöglichen die vorliegenden Falldarstellungen. Daher stellt der Band eine überaus gewinnbringende Bereicherung der bisher eher nationalstaatlich orientierten Fallarbeit in der Lehre dar.

Zur Zitierweise der Rezension
Richard Lischka-Schmidt (Halle): Rezension von: Carla Schelle/ Bettina Fritzsche/ Roswitha Lehmann-Rommel: Falldarstellungen für eine komparative, praxeologische Seminararbeit. Unterrichtssituationen aus Deutschland, Frankreich, Senegal und England. Münster, New York: Waxmann 2021 (164 S.; ISBN: 978-3-8309-4369-3; 19,90 EUR). In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am: 26. Juli 2022), URL: https://ewrevue.de/2022/07/falldarstellungen-fuer-eine-komparative-praxeologische-seminararbeit/