Demokratische Bildung und die Kontroverse über Kontroversitätsgebote
Stuttgart: Kohlhammer 2021
(242 S.; ISBN: 978-3-17-039882-5; 32,00 EUR)
Der Band „Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?“ von Johannes Drerup, Miguel Zuleica y Mugica und Douglas Yeacek mit hochaktuellem Thema ist in drei Teile gegliedert: Theoretische Grundlagen – Fachperspektiven – Aktuelles. In die Beiträge führen die Herausgeber einleitend treffend ein, auch zitieren sie den Beutelsbacher Konsens von 1977 ausführlich.
Zum ersten Teil: Theoretische Grundlagen aus Erziehungs- und Bildungstheorie haben im Beitrag von Giesinger („Mitteilen und Vermitteln“) einen klaren Bezug zum professionellen Handeln, denn darum geht es im Titel insgesamt. Der Unterschied ist gut nachvollziehbar: Die Lehrer-Meinung darf mitgeteilt werden, aber nicht als einzig richtige vermittelt werden. Mehr konkrete Strategie für den Unterricht etwa beim Thema „Sterbehilfe“, wäre trotzdem nötig. Oder bleibt das Thema ethisch-unpolitisch? Rucker erläutert in seinem Beitrag den „erziehenden Unterricht“ mit Bildungsanspruch, bleibt aber ganz allgemein. Zuleica y Mugica behandelt Weltbilder mit ihren Konsequenzen für die Grenzen der Kontroversität und formuliert aus dem „Bewusstsein lernbereiter Fallibilität“ (52) wichtige Kompetenzen des Demokratie-Lernens. Wo es handlungsrelevant werden könnte, bleiben die „didaktischen Methoden“ (55) unkonkret, die Kritik nimmt die Didaktik der politischen Bildung nicht zur Kenntnis. Hilbrich schildert die englischsprachige Debatte, dreht dann aber (70) in die Schilderung situativen Handelns: Die Weigerungen von Lernenden (einmal gegen die anti-rassistische Positionierung ihrer Lehrerin, dann die Weigerung von Fridays for Future gegen schulische Bildung) sind realistisch und müssen Lehrende „in der reflexiven Auseinandersetzung mit ihrem Handeln beschäftigen“ (72).
Die Frage der Rezensentin an die theoretischen Grundlagen lautet: Was leistet die allgemeine Didaktik für die Profession bzw. wie setzt sie sich zum Lehrer-Handeln im Unterricht in Beziehung?
Die im zweiten Teil behandelten Fächer sind der Religionsunterricht, Philosophie, Geschichte und mehrfach die politische Bildung. Für den konfessionellen Religionsunterricht mit seinen politisch-rechtlichen Spezifika sucht Herbst den Beutelsbacher Konsens für konfessionelle Inhalte und für die Lehrkräfte als „positionierte Kontroversität“ (89) zu nutzen. Anne Burkard wertet drei Gruppendiskussionen mit Philosophie-Lehrenden aus: Abgelehnt werden starke Positionierungen (wegen der Asymmetrie mit der Gefahr der Überwältigung), aber auch umfassende Neutralität (weil dann der Eindruck der Beliebigkeit erzeugt werde, weil Authentizität gar nicht möglich sei und weil Lernende unter Umständen nach einer Position fragen). Die Lehrkräfte beschreiben ein breites Spektrum legitimer Handlungsstrategien. Für das historische Erzählen sieht Rüsen vier Formen der normativen Regelung: traditional, exemplarisch, genetisch und kritisch. Die Werturteile müssen expliziert und erörtert werden unter Wahrung der pluralistischen Grundstruktur. Widmaier schildert die freiheitlich-demokratische Grundordnung aus den Parteiverbotsverfahren des Bundesverfassungsgerichtes und warnt vor Verkürzungen politischer Bildung auf Neutralität oder erzieherischen Verfassungsschutz. Die theoretischen Rahmungen, empirischen Befunde und Reflexionen von Gronostay sind gesättigt mit konkreten Szenen! Das Lehramt als pädagogische und als politische Profession steckt in der Spannung zwischen Zielen der Legitimation, der Kritik und der Mündigkeit. Der Beutelsbacher Konsens hat das Verdienst, den Politikunterricht „als primär pädagogische, denn politische Situation zu bestimmen“ (147). Die Frage nach der Offenlegung der Position der Lehrperson wird mit konträren Argumentationen konfrontiert; sehr lesenswert! Von problematischen Umgangsweisen mit Kontroversität in der Öffentlichkeit (von Ratlosigkeit bis Überdruss) leitet Goll über zu möglichen Kriterien für die notwendige Auswahl von zu behandelnden Kontroversen im Unterricht und schließlich zur fachdidaktischen Bestimmung: Der Umgang mit Kontroversität muss diskursiv sein und kann dann sowohl eine normative Legitimation als auch eine durch Verfahren umgreifen.
Die Rezensentin meint: Allgemeine Didaktik hätte die Aufgabe, die Fach-Diskussionen zu analysieren, zu vergleichen und zu verallgemeinern für das Wissen der Lehr-Profession. Die Struktur dieses Buches öffnet den Weg.
Der dritte Teil „Aktuelle Themen“ behandelt zweimal den „Missbrauch des Beutelsbacher Konsens‘“ (178) durch die Partei Alternative für Deutschland (AfD), die ihm ein Neutralitätsgebot andichtete (Brüning). Haker und Otterspeer kritisieren das Hamburger AfD-Portal begrifflich-theoretisch sehr sorgfältig, und zwar politisch und bildungstheoretisch. Aus der Bestimmung von Fake News und Verschwörungstheorien folgen bei Lanius Postulate für Bildungsprozesse und (zu) wenige praktische Vorschläge für professionelles Handeln. Das Unterrichtsprojekt „The Blue Planet“ (Nijhawan) zeigt überzeugend das Miteinander und den Unterschied von Werte-Eindeutigkeit (hier die Norm „Umwelt“) und Kontroversität (konkrete Maßnahmen zum Erreichen der Norm sind umstreitbar) im Lichte des Beutelsbacher Konsenses. Hier ist die Ebene professionellen Handelns für den Unterricht erreicht.
Fazit: Dieses spannende Buch zu Meinungsäußerungen professioneller Lehrender ruft – nach Meinung der Rezensentin – nach enger Kooperation allgemeiner und fachlicher Didaktik. Es zeigt auch, dass rein theoretische Reflexionen für politische Stellungnahmen nützlich sein können (siehe die AfD-Kritiken), aber für die professionelle Reflexion aufs Handeln, müssen konkrete Szenen und Abläufe aus dem Unterricht hinzukommen.